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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten
Autoren: Kristin Feireiss
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die Einheit zu gefährden, und verschieden genug, um Langeweile zu verhüten.« Bei meiner Mutter ist noch ein Satz hinzugefügt. Er lautet: »Im männlich-weiblichen Gefühlsleben bildet ein Ereignis eine Dominante. Der Fall der Ehe hebt sich ab.« Um was für ein offensichtlich einschneidendes Ereignis es sich dabei gehandelt haben mag, weiß ich nicht, wohl aber, dass der ahnungsvolle Professor bereits bei dem frisch verheirateten Paar die Besonderheit dieser Beziehung erkannt hat. Sie gründet auf der freien Liebe im Rahmen einer festen ehelichen Bindung. Mein Vater gibt die Regeln vor, und Mady hält sich daran.
    Mein Urgroßvater väterlicherseits, der ebenfalls den Namen Hans trägt, stammt aus einem Dorf namens Nickweiler im Hunsrück. Er ist Volksschullehrer und hat sechzehn Kinder. Die Familie gehört zu den ärmsten der Gemeinde und lebt auf einem kleinen Hof am Rande des Dorfes. Urgroßvater Lang hätte gern allen seinen Söhnen ein Studium ermöglicht, aber dafür reicht das Geld nicht. Also tritt er den Hof an den Ältesten ab, verbunden mit der Bitte, den jüngsten und begabtesten Bruder studieren zu lassen, sofern der Hof genug abwirft. Auf diese Weise kommt mein Großvater Lang in den Genuss einer akademischen Ausbildung.
    Großmutter Margareta Lang, geborene Kessler, wächst dagegen als einziges Kind und früh schon Halbwaise in der Obhut ihres Vaters in einem großbürgerlichen Haus an der Löwenbrücke in Würzburg auf. Er weist sie in alles ein, was sie wissen muss, um einmal das prosperierende Unternehmen zu leiten. Es ist ein Verstehen zwischen Vater und Tochter, das einen Dritten überflüssig macht. Doch mein Urgroßvater Kessler, der es durch Fleiß, besonnenes Haushalten und geschicktes Taktieren zu Geld und Ansehen, zu Weinbergen und Ländereien gebracht hat, träumt von Enkeln. »Ich fahre vierspännig, meine Enkel sollen einmal sechsspännig fahren«, bringt er seinen Lebenstraum auf den Punkt.
    Margareta fügt sich seinem Wunsch, und der stolze Brautvater richtet seiner Tochter eine herrschaftliche Hochzeit aus. Großmutter Lang bekommt vier Kinder. Das erste, ein Sohn, stirbt im Alter von drei Monaten, weil die Muttermilch infektiös ist. Danach kommt ein Mädchen, Greta. Nach ihr wird Maja geboren, dann endlich wieder ein Sohn. Das ist mein Vater. Er wird auf den gleichen Namen wie schon sein Vater und sein Großvater, Hans, getauft. In den Augen meines Großvaters Lang zählt nur er. Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn ist auf der einen Seite von Forderungen und auf der anderen von Ablehnung geprägt. Hans, der bereits mit siebzehn Jahren das Abitur am humanistischen Alten Gymnasium in Würzburg ablegt, ist gerade zwölf Jahre alt, als er zum ersten Mal eine Drei im Zeugnis nach Hause bringt. Es ist kurz vor Weihnachten. Zur Strafe nimmt der Vater seinem Jüngsten am Heiligen Abend alle Geschenke weg und verbrennt sie vor dessen Augen im offenen Kamin.
    Die Mutter meines Vaters, die ihren Nachzügler abgöttisch liebt, macht es ihm mit ihrer übermäßigen Fürsorge auch nicht leichter. Aus Angst, Hans könnte etwas zustoßen, darf er weder Schwimmen noch Radfahren lernen. Rodeln ist nur erlaubt, wenn das Hausmädchen Minna dabei ist. Da ist Hans bereits in der Pubertät. Mady hat später viel Mühe, dem Muttersöhnchen im fortgeschrittenen Alter all das beizubringen, was man eigentlich in der Kindheit erlernt. Erfolg hat sie vor allem beim Schwimmunterricht. Um ihr zu beweisen, dass er ein gelehriger Schüler ist, nimmt Hans an einem Wettschwimmen quer über den Main bei Würzburg teil. Er gewinnt. Nach der Zurschaustellung seines sportlichen Könnens kehrt Hans dem Schwimmsport jedoch ebenso schnell den Rücken wie bald darauf dem Reiten. Ein erster Versuch im Reitstall seiner Schwiegermutter Jula Neckermann, den er wohl vor allem deswegen unternimmt, um mit seiner jungen Frau ausreiten zu können, findet mit dem Muskelkater danach ein jähes Ende. Mein Vater kann mit Schmerzen nicht umgehen und will sie sich schon gar nicht selber zufügen. Das allzu behütete Aufwachsen unter den Fittichen seiner Mutter ist sicher einer der Gründe dafür, dass Hans, kaum von zu Hause ausgezogen, nachhaltig über die Stränge schlägt. Die unerbittlichen Zurechtweisungen seines Vaters haben zur Folge, dass Hans seine eigenen Kinder kritiklos vergöttert.
    Großvater Lang stirbt im Sommer des Jahres 1918 an einem Herzanfall, und Großmutter Margareta ist nun aller Ehepflichten ledig,
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