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Friss oder stirb

Friss oder stirb

Titel: Friss oder stirb
Autoren: Clemens G. Arvay
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Stelle vorbei, die dicht mit Karden bewachsen war. Das Kraut, unter Botanikerinnen und Botanikern als Dipsacus fullonum bekannt, streckte seine stacheligen Stängel mannshoch gegen den Himmel, an deren Spitzen die bereits vertrockneten, kopfförmigen Blütenstände saßen, die botanisch einer Ähre entsprechen. „Die Karde hat mich vor einigen Jahren von der Borreliose geheilt“, erinnerte sich der Pflanzenfreund Storl zurück und deutete dabei auf die buschigen Gewächse. Dass die Karde tatsächlich gegen diese bakterielle Erkrankung wirkt, wird von Ärztinnen und Ärzten angezweifelt. Wolf-Dieter Storls Begeisterung für diese Pflanze blieb davon aber unberührt: „Seit sie mich geheilt hat“, sagte er, „gedeiht sie hier in meinem Garten.“ Aus dieser Beobachtung zog er einen äußerst bemerkenswerten Schluss: „Der Geist der Pflanze entschied sich, bei mir zu bleiben, nachdem er mich gesund gemacht hatte.“ Obwohl ich mir als Biologe eine andere Erklärung für das Auftauchen der Karde im Storlschen Garten zurechtgelegt hatte, empfand ich die ungewöhnliche Deutungsweise als willkommene Gelegenheit, die Welt an jenem Morgen für ein paar Momente mit anderen Augen zu sehen.
    Wir spazierten ein wenig im Garten umher. Zwischen knorrigen Apfelbäumen und hoch gewachsenen Stangenbohnen mit dichtem, dunkelgrünem Blätterkleid und wulstigen, langen Hülsen stieß ich auf allerlei Gemüsepflanzen und Beerensträucher. Am Rand des Gartens wucherten Heilkräuter mit unterschiedlichsten Blütenfarben und Wuchsformen. Dort, vor den dichten Reihen von Arzneipflanzen, vertieften wir uns schließlich in ein Gespräch, während sich die frühmorgendlichen Nebelschwaden, in die wir getaucht waren, langsam zu schwebenden, bläulichgrauen Fetzen zerteilten. Eine der Fragen, die ich dem Allgäuer Pflanzenkundigen stellte, lag mir besonders am Herzen. Von ihm als jemandem, der sich in seinem Leben intensiv mit philosophischen Fragen auseinandergesetzt hatte, wollte ich wissen, was er über das Berichten von Negativem in unserer Welt zu sagen hatte. Ich ahnte schon, dass meine bevorstehenden Besuche in der europäischen Lebensmittelindustrie – wie bereits in meinen vergangenen Recherchen – nicht allzu viel Erfreuliches mit sich bringen würden. Von einem war ich allerdings überzeugt: Wenn ich über konstruktive Lösungen für unsere in die Krise geratene Landwirtschaft und Lebensmittelversorgung berichten wollte, dann musste ich auch darüber schreiben, was meines Erachtens derzeit alles schiefläuft. Denn um Lösungen zu finden, müssen wir zuerst die Probleme kennen.
    Ich war gespannt darauf, zu erfahren, welchen Stellenwert mein Gesprächspartner dem Aufdecken von Missständen zusprechen würde. Also fragte ich ihn danach.

    Clemens G. Arvay: Ist es aus Deiner Sicht legitim, den Konsumentinnen und Konsumenten einen Blick hinter die werbestrategischen Kulissen der Lebensmittelkonzerne zu ermöglichen, auch wenn das, was dabei zum Vorschein kommt, für manche schwer zu verdauen sein mag? Oder muss man sich dann den Vorwurf gefallen lassen, sich im Negativen zu verfangen?

    Wolf-Dieter Storl: Ich würde sagen, dass ein Arzt genau ansehen muss, was dem Kranken fehlt. Er muss in die Wunde schauen, damit geheilt werden kann. Und genauso ist es auch in gesellschaftlichen Prozessen. Die Probleme wahrzunehmen ist nichts Negatives. Im Gegenteil: Alles andere wäre reine Schöngeisterei und sogar gefährlich. Sich nur mit dem Positiven zu beschäftigen ist im Grunde selbst wieder negativ, wenn man so blind durchs Leben läuft und immer nur das Schöne sehen will. Ich kannte eine Frau: Nachdem ein riesengroßes Stück Wald in den Bergen dem Erdboden gleichgemacht wurde, meinte sie: „Ich schaue da lieber gar nicht hin, ich möchte nur das Positive sehen.“ Ich hingegen schaute hin. Und ja, es war tatsächlich schrecklich. Aber nach einer Weile, da fing das Leben dort in der Grube wieder an. Und es wuchsen die Pionierpflanzen und auf einmal waren Pfützen da und Frösche und so weiter. Positiv und Negativ sind ja keine starren Gegensätze. Wir leben in einer Welt, in der diese Spannungen und diese Dualitäten nun einmal stattfinden.

    Ich kramte in meiner Tasche und zog ein paar Fotos heraus. Es waren Aufnahmen von Legehennen in Deutschland, Österreich und Großbritannien. Die Bilder hatte ich selbst angefertigt und sie waren topaktuell. Sie zeigten dicht gedrängte Hennen in einer mit künstlichem Rotlicht beleuchteten Halle
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