Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Ende der Liebe

Das Ende der Liebe

Titel: Das Ende der Liebe
Autoren: Sven Hillenkamp
Vom Netzwerk:
[9] VORREDE
    DIE GROSSE ÜBERTREIBUNG
    Einem Soziologen wurde einmal vorgeworfen, er schildere die Gesellschaft aus Sicht eines Neurotikers, also maßlos übertrieben.
    Der Soziologe sagte: »Es ist erwiesen, dass alle Menschen neurotisch sind. Also ist die neurotische Sicht die gewöhnliche, die übertriebene die objektive. Schon wenn ein Mensch die Farbe Rot wahrnimmt, nimmt er eine Übertreibung von Rot wahr. Sogenannte Objektivität käme also einer Untertreibung gleich, die kaum ein Mensch nachvollziehen könnte. Warum sollte ich Menschliches mit den Mitteln der Physik beschreiben?«
    In dem Sinne ist auch dieses Buch ein wahrhaft objektives, also übertriebenes.
    Das Phänomen, das dieses Buch erforscht, ist aber auch an sich eine Übertreibung. Es ist das Übel einer unendlich gewordenen Freiheit, unendlichen Auswahl in jedem Bereich, unbegrenzter Möglichkeiten – also einer gesellschaftlichen Übertreibung, die alles Menschliche ins Unendliche steigert und damit ins Unmenschliche.
    Eine Folge, die erste und einschneidendste, ist das Ende der Liebe. Es ist die Tragödie zweier Geschwister. Die Liebe war eine Schwester der Freiheit. Nun reißt die Freiheit sie mit in den Tod.
    [10] Die Zwänge, die aus der Freiheit sich ergeben, haben andere benannt. Sie sind Gegenstand von Reportage und Polemik. Die Feststellung unbegrenzter Möglichkeiten ist daher nicht Zweck des Buches, sondern sein Ausgangspunkt. Es zeigt die Zwänge der Freiheit in Reinform, mit allen Konsequenzen. Es rechnet sie hoch, spielt sie durch, lässt ihrer Logik freien Lauf, offenbart ihren Charakter in der Extremsituation totaler Verwirklichung.
    Das romanhafte Verfahren des Durchspielens und Hochrechnens wird jedoch stets eingeholt von der Wirklichkeit. Denn die freien Menschen wollen ja tatsächlich ihr Selbst in Reinform erfahren, ihr Leben bis zur letzten Konsequenz leben. Das Buch, das maßlos übertreibt, beschreibt eine Welt, die maßlos übertreibt.
    Die Menschen, die schon heute nicht mehr lieben, sind von unbekannter Zahl. Doch hier geht es nicht um Zahlen. Es geht um eine Erfahrung. Diese Erfahrung ist typisch für die Zeit. Wenn es einen einzigen Satz gibt, der die heutigen Menschen charakterisiert, so ist es der Satz: »Ich liebe nicht.«
    Das Bild, das jemand sich von der Zukunft macht, zum Beispiel vom Ende der Liebe, ist in Wahrheit ein Bild der Gegenwart – ein Bild, das nur das Typische einer Zeit zeigt, ungemischt, bar aller Vergangenheitsrelikte. Die Gegenwart ist wie Metall im Sand eines Flusses, mit bloßem Auge zuweilen schwer sichtbar, gemischt unter die Sedimente der Zeit. Sie ist in ihr selbst nur ein Teil, ein Anfang.
    Der Autor, der, historisch und literarisch, maßlos übertreibt, sitzt in Wahrheit am Fluss der Zeit und siebt die Gegenwart heraus.
    Viele leben in dieser Gegenwart, der Welt unendlicher Freiheit – und kein Weg, kein Beschluss führen sie aus dieser [11] Welt heraus. Man entkommt der Freiheit nicht, in keine Nische, kein Exil. Auch eine Partnerschaft bleibt – wie die Verehrung eines Gottes, eines Führers – eine freiwillig betretene Unfreiheit, also innerhalb der Freiheit. Die Menschen können mit keinem Schwur, keinem Schritt ihrer Freiheit entfliehen. Sie können den Möglichkeiten nicht entfliehen, die die Liebe unmöglich machen.
    Wer dem Druck einer autoritären Gesellschaft nachgibt, passt sich an. Wer dem Druck einer freien Gesellschaft nachgibt – nachgeben muss –, wird zum Extremisten. Darum sind die Extremisten in der Freiheit der Durchschnitt: die Marathonläufer und Weltumsegler, die Künstler und Kandidaten, die Don Juans und Donna Juanas, die Swinger und Sadomasochisten, die Aufsteiger und Aussteiger, die Einwanderer und Auswanderer, die Esssüchtigen und Arbeitssüchtigen, die Körperveränderer und Seelenheiler, die Isolationisten und Exhibitionisten, Totalfitte und -kaputte, Terroristen und Amokläufer, Kriegsreporter und Katastrophenhelfer.
    Das will nichts über die moralische Qualität des jeweiligen Extremismus sagen; derselbe kann gut oder schlecht sein. Es besagt nur, was Extremismus heute nicht mehr ist: Er ist kein Widerstand mehr. Extremismus ist Anpassung an die Freiheit.
    Die Unmöglichkeit der Liebe entsteht nicht in einer kalten, lieblosen Gesellschaft, sondern – umgekehrt – aus einem Liebesextremismus.
    Die Menschen, die nie lieben, sind Menschen, die tatsächlich immer lieben – in jeder Sekunde, mit jedem Blick einen Anderen. »Ich liebe«, das heißt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher