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Friss oder stirb

Friss oder stirb

Titel: Friss oder stirb
Autoren: Clemens G. Arvay
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einer Welt der Dualität
    Aufbruch
    Im August 2012 bereitete ich mich auf eine Reise vor. Ich erntete aus meinem Garten alles, was dieser hergab, und lagerte das Gemüse ein. Einen Teil der Erdenfrüchte verarbeitete ich zu haltbaren Konserven, zu Gewürzgurken und Tomatensaucen, Chutneys aus Zucchini und Kürbis, Pickles aus Paprika, Auberginen und Bohnen. Auf meinem Acker säte ich Phacelia tanacetifolia , die Rainfarn-Phazelie, die seit dem frühen 19. Jahrhundert kultiviert wird. Umgangssprachlich ist die Pflanze auch als „Büschelschön“ oder „Bienenfreund“ bekannt. Die beiden wohlklingenden Namen verdankt das Raublattgewächs seinen buschigen, violetten Blütenständen, die von Bienen mit Vorliebe besucht werden. Der Bienenfreund würde sich während meiner Abwesenheit bis in den Herbst hinein auf dem Acker ausbreiten, um mit seinem dicht verzweigten Wurzelsystem das Erdreich zu lockern und die Bodenstruktur zu verbessern. Es handelte sich um Gründüngung: Im Herbst würde ich die Pflanzen wieder in den Boden einarbeiten und so zum Aufbau des nahrhaften Humus beitragen.
    Ich packte meinen Rucksack und brachte ihn gemeinsam mit der Film- und der Fotokamera in meinen Wagen. Da ich „nomadisch“ unterwegs sein wollte, gestaltete ich den hinteren Teil des alten, kastenförmigen Geländeautos zu einer Schlafkoje um. Das gab mir die Freiheit, völlig unabhängig und ohne die allabendliche Sorge um eine Unterkunft in die Fremde zu fahren.
    Die feurige Sonne des Augusts glühte im tiefblauen, wolkenlosen Himmelszelt, als ich einen letzten Streifzug durch meinen Garten unternahm. Ich ließ mich von den warmen, energiegeladenen Sonnenstrahlen durchfluten und wusste, dass nach meiner Rückkehr nichts mehr sein würde, wie es war. Von den jetzt so saftig grünen, unbändig emporwachsenden und rankenden Gewächsen und ihren Früchten würde ich in jenem Jahr nicht mehr viel sehen – vielleicht noch die vertrockneten Stängel der kräftigen Moschuskürbispflanzen, die braunen Skelette der Stangenbohnen und der aztekischen Maispflanzen sowie die zu Grau verblassten, mächtigen Blütenstände der umgefallenen Sonnenblumen oder ein paar liegen gebliebene Früchte, aus denen schon die Samen herausquellen. Es war aber ein gutes Gefühl, zu wissen, dass meine Nachbarn sich reichlich an der Ernte bedienen und meine Kürbisse zur richtigen Zeit einlagern würden. Ich verließ mein Dorf im Hochsommer und würde erst wieder zurück sein, wenn der Herbst längst über das Land hereingebrochen war. Elf Wochen Abenteuer lagen vor mir – elf Wochen als Nomade in Europa.

    Brief an meine Nachbarn vom 20. August 2012

    Es ist so weit: Innerhalb der nächsten Tage werde ich abreisen. Ich werde Bäuerinnen und Bauern in verschiedenen europäischen Ländern besuchen und mir zahlreiche Initiativen und Projekte ansehen, bei denen es um eine sinnvolle, zukunftsfähige Produktion und Verteilung unserer Lebensmittel geht.
    Nach dem Erscheinen meines letzten Buches „Der große Bio-Schmäh – Wie uns die Lebensmittelkonzerne an der Nase herumführen“ [1] erreichten mich monatelang zahlreiche Anfragen von Leserinnen und Lesern, die sich das falsche Spiel der Supermärkte und Discounter nicht mehr bieten lassen möchten. Ich werde am laufenden Band gefragt, was man denn tun könne, um die Macht der Lebensmittelkonzerne zu brechen und sich vernünftiger zu ernähren. Und die Frage „Was kann man überhaupt noch kaufen?“ hörte ich sehr oft. Ein Mann schrieb mir in einer E-Mail, es fühle sich für ihn an wie „friss oder stirb!“, wenn er sich vor den Regalen der Supermärkte für ein Produkt entscheiden müsse.
    Das ist eben das Problem, wenn Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion als reiner Kommerz betrieben werden, wo sie doch viel mehr sind. Die Landwirtschaft ist als Jahrtausende altes Kulturerbe die Grundlage jeder menschlichen Gesellschaft, und Nahrung ist die Voraussetzung für Leben überhaupt. Der allgemeine Zeitgeist des gnadenlosen wirtschaftlichen Wachstums, des Konkurrenzdenkens und der Dominanz des Profitstrebens in allen Lebensbereichen hat in die Landwirtschaft ebenso dramatisch Einzug gehalten wie überall sonst. Gibt es wirklich keine Alternativen zu grausamer Massentierhaltung und hoch industriellen Schlachtungsmethoden? Zu sinnloser Überschussproduktion und unfassbarer Lebensmittelvernichtung? Zu außer Rand und Band geratenen Warenflüssen und globaler Ungleichverteilung unserer Nahrung? Sollen wir die
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