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French, Tana

French, Tana

Titel: French, Tana
Autoren: Sterbenskalt
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Tana French
     
    STERBENSKALT
     
    Kriminalroman
     
    Aus dem
Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
     
    Die
Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »Faithful Place«
     
     
    Prolog
     
    im gesamten leben zählen nur einige wenige Augenblicke.
Meistens merkt man das erst im Nachhinein, wenn sie längst an einem
vorbeigezischt sind: der Augenblick, in dem du beschlossen hast, das Mädchen
anzusprechen, vor der unübersichtlichen Kurve abzubremsen, doch noch das
Kondom hervorzuholen. Ich hatte Glück, könnte man wohl sagen. Ich bekam einen
meiner entscheidenden Augenblicke voll und ganz mit und erkannte ihn als
solchen. Ja, ich spürte den reißenden Sog meines Lebens um mich herumwirbeln,
als ich in einer dunklen Winternacht oben am Faithful Place stand und wartete.
    Ich war
neunzehn, alt genug, um es mit der Welt aufzunehmen, und jung genug, um zig
Dummheiten auf einmal zu machen, und sobald meine Brüder in jener Nacht fest
eingeschlafen waren, schnallte ich meinen Rucksack um und schlich mit meinen
Doc-Martens-Schuhen in der Hand aus unserem Zimmer. Ein Dielenbrett knarrte,
und im Mädchenzimmer murmelte eine meiner Schwestern im Schlaf, doch ich war in
jener Nacht unbesiegbar, ritt hoch auf der wogenden Brandung, nicht mehr
aufzuhalten. Meine Eltern drehten sich auf der Ausziehcouch im Wohnzimmer nicht
mal um, als ich so nah an ihnen vorbeischlich, dass ich sie hätte berühren können.
Das Feuer im Ofen war zu einer säuselnden roten Glut heruntergebrannt. Im
Rucksack befand sich alles Wichtige, was ich besaß: Jeans, T-Shirts, ein
Transistorradio, das ich gebraucht gekauft hatte, hundert Pfund und meine
Geburtsurkunde. Mehr brauchte man damals nicht, um rüber nach England zu
fahren. Rosie hatte die Fahrkarten für die Fähre.
    Ich
wartete im Schatten oben an der Straße auf sie, am Rande des matten gelben
Lichtkreises unter der Straßenlampe. Die Luft war kalt wie Glas, mit einem
würzig rauchigen Hopfenduft von der Guinness-Brauerei. Ich trug drei Paar
Socken in den Docs, und ich stopfte die Hände tief in die Taschen meines
deutschen Armeeparkas und lauschte ein letztes Mal meiner Straße, die lebendig
in der langsamen Strömung der Nacht trieb. Eine Frau lachte, Na, na,
das hättest du wohl gern, ein Fenster wurde zugeknallt. Eine
Ratte huschte an einer Mauer entlang, ein Mann hustete, ein Fahrrad zischte um
die Ecke. Mad Johnny Malone redete in der Kellerwohnung von Nummer 14 mit einem
tiefen zornigen Grollen im Schlaf. Ein Liebespaar irgendwo, gedämpftes Wimmern,
Bumsgeräusche, und ich dachte an den Geruch von Rosies Hals und grinste zum
Himmel hinauf. Ich hörte die Glocken der Stadt Mitternacht schlagen, Christ
Church, St Pat, St Michan, wuchtige, runde Klänge, die vom Himmel herabfielen
wie eine Feier, unser eigenes geheimes Neujahr einläuteten.
    Als sie
eins schlugen, hatte ich Angst. Eine Spur aus leisem Rascheln und Stampfen
durch die Gärten, und ich machte mich bereit, doch sie kam nicht über die
letzte Mauer geklettert. Wahrscheinlich schlich da jemand mit schlechtem Gewissen
zu spät nach Hause, stieg durch ein Fenster. In Nummer 7 brüllte Sallie
Hearnes jüngster Nachwuchs los, ein dünnes, hoffnungsloses Heulen, bis sie sich
aus dem Schlaf quälte und ihm etwas vorsang. I know where
I'm going ... Painted rooms are bonny ...
    Als die
Glocken zwei schlugen, wurde mir das Missverständnis schlagartig klar, traf
mich wie eine Ohrfeige. Sie katapultierte mich geradewegs über die Mauer in
den Garten von Nummer 16, schon vor meiner Geburt verwahrlost und von uns
Kindern trotz der schrecklichen Warnungen in Beschlag genommen, übersät mit
Bierdosen und Zigarettenkippen und so mancher verlorenen Unschuld. Ich sprang
die morsche Treppe hoch, immer vier Stufen auf einmal, ohne mich drum zu
scheren, wer es hörte. Ich war mir so sicher, ich sah sie schon vor mir,
zornige kupferrote Locken und Fäuste in die Hüften gestemmt, Verdammt
nochmal, wo bleibst du denn?
    Geborstene
Dielenbretter, Löcher im Putz, Schutt und kalte dunkle Zugluft und keine
Menschenseele. Im oberen Wohnzimmer fand ich den Brief, bloß ein Blatt, aus
einem Schulheft gerissen. Es lag auf dem nackten Fußboden, flatterte in dem
bleichen Rechteck aus Licht, das durch das zerbrochene Fenster fiel, und sah
aus, als hätte es dort schon seit hundert Jahren gelegen. In diesem Moment
spürte ich, wie sich der reißende Sog veränderte, blitzschnell eine tödliche
Wendung vollzog, viel zu stark, um dagegen
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