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Freddy - Fremde Orte - Blick

Freddy - Fremde Orte - Blick

Titel: Freddy - Fremde Orte - Blick
Autoren: Martin Clauß
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eine halbe Minute, dann verstummte der Lärm. Er brach nicht jäh ab, sondern wurde langsam dünner. Was immer auf den drei Orgelmanualen lag, es rutschte Stück für Stück davon herunter. Wurde von den Männern heruntergezerrt, zweifellos – sie sah die Szene in Gedanken vor sich, deutlicher als es ihr lieb war.
    Bedeutete das, dass der Organist über den Tasten zusammengebrochen war, tot vielleicht?
    Was geschah hier? Was stimmte heute nicht mit diesem Ort? In dieser Kirche war niemals etwas Ungewöhnliches vorgefallen, soweit sie sich erinnern konnte. Hatte der Organist einen Herzschlag erlitten? Und das ausgerechnet in dem Moment, in dem das Tier, das sich in die Kirche verirrt hatte, sich in seine Richtung bewegte?
    Hatte ihn etwas zu Tode geängstigt?
    Was zum Teufel , dachte Sonja, doch dann erinnerte sie sich daran, dass sie sich in einer Kirche befand, und warf dem armen Gekreuzigten einen Blick zu. Ich hoffe , sagte sie in Gedanken, ich habe dich nicht verärgert.
    Und plötzlich geschah etwas, was es ihr heiß und kalt werden ließ. Nein, in Wirklichkeit geschah überhaupt nichts. Der Christus am Kreuz regte sich nicht (wie sollte er auch?), er schickte ihr auch keine telepathische Botschaft. Er ließ den Kopf weiter hängen, vollkommen kraftlos und seinem Schicksal ergeben. Sein Gesicht war von ihr aus nicht zu erkennen. Es war von nirgendwo in der Kirche aus zu erkennen, außer man hätte sich direkt unter ihn auf den Altar gelegt.
    Und doch hatte Sonja das Gefühl – das unmögliche und doch absolut sichere Gefühl –, der Gekreuzigte habe eben die Augenlider aufgeschlagen …

3
    „Miriam!“, riss sie eine Stimme aus dem Kerker ihrer Gedanken. „Komm, wir gehen!“
    Miriams Vater, die gebeugte, willenlose Mutter wie immer im Schlepptau, war zur Konfirmandenbank gekommen und hatte seine Tochter an den Schultern gepackt. Miriam entwand sich seinem Griff, ehe er noch einmal härter nachgreifen konnte. „Ich gehe nicht!“, widersprach sie heftig. Dabei sah sie dem Mann nicht in die Augen.
    Sonja, die zunächst einen Schritt zurückgewichen war, als der Mann ihre Freundin packte, stellte sich nun schützend neben Miriam und legte einen Arm um sie. „Wir sind mitten in unserer Konfirmation, und wir bleiben bis zum Abendmahl“, stellte sie fest, und im Gegensatz zu ihrer Freundin erwiderte sie den Blick des Mannes durchaus. In seinen Augen flackerte es, und sein ständig rotes Gesicht verfärbte sich in Richtung Violett.
    „Das Fest ist abgesagt“, zischte er und wandte sich wieder Miriam zu. „Nach Hause mit dir!“
    Sonja wunderte sich über die aggressive Strenge des Mannes. Sie war Miriams Vater einige Male über den Weg gelaufen, er hatte etwas verkrampft und verbissen gewirkt, ähnlich wie seine Tochter, aber er war ihr nicht unsympathisch gewesen, und sie hatte bisher nie mitbekommen, dass er seine Tochter anherrschte und herumkommandierte. Heute sah er sehr gereizt aus, stand offenbar unter großem nervlichem Druck. War es der Anlass an sich, der ihn nervös machte, oder die überraschende Wendung, die die Zeremonie genommen hatte? Fürchtete er sich vor dem Tier, das in die Kirche eingedrungen war?
    Miriam räusperte sich. „Ich warte auf meine Einsegnung“, sagte sie leise und ernst. „Sie ist mir wichtig. Und euch sollte sie auch wichtig sein.“ Miriams Mutter sah ihren Mann flehend von der Seite an, als wollte sie sagen: Nicht wahr, Schatz, hat sie nicht recht? Willst du nicht auf sie hören? Sonja hatte zum wiederholten Mal den Eindruck, dass in dieser Familie nicht viel diskutiert wurde …
    Ehe der Streit sich weiterentwickeln konnte, kamen zwei Männer von der Empore herab. Sie stützten einen dritten – den Organisten! Der Mann war keineswegs tot und augenscheinlich auch nicht schwer verletzt, denn er konnte aus eigener Kraft gehen, schien nur etwas wackelig auf den Beinen und presste sich ein zusammengefaltetes Tuch gegen die Nase. Das Tuch wies dunkelrote, fast schwarze Flecken auf.
    Nasenbluten? Hatte er einen Schlag ins Gesicht bekommen? War er vielleicht gar nicht angegriffen worden, sondern hatte sich nur erschrocken, vor dem Tier vielleicht, und sich bei einem ungeschickten Fluchtversuch selbst verletzt? Dort oben auf der Empore war es eng, Balken verliefen kreuz und quer. Sonja hatte sich einmal den Kopf angeschlagen, als der Pfarrer sie vor einigen Monaten im Rahmen des Konfirmandenunterrichts dort herumgeführt hatte.
    Sie setzten den Organisten in die hinterste
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