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Freddy - Fremde Orte - Blick

Freddy - Fremde Orte - Blick

Titel: Freddy - Fremde Orte - Blick
Autoren: Martin Clauß
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übertragenen Sinne gemeint.“ – „Nein, er hat es so gemeint, wie er es gesagt hat.“ – „Meine Tochter ist keine diebische Elster!“ – „Elstern machen tschäk-tschäk-tschäk, dieser Vogel macht ö-ööh. Ö-ööh ist etwas anderes als tschäk-tschäk-tschäk, oder finden Sie nicht?“ Hinter Sonja flüsterte Thorstens Vater: „Dieser Hippie sollte sich erst einmal rasieren, ehe er ein Gotteshaus betritt.“
    Sonja blendete das Geplapper aus. Sie hörte, wie das dunkle Krächzen (das jetzt immer mehr an ein bähendes Schaf erinnerte) sich vom vorderen Teil der Kirche in den hinteren bewegte und sich damit von ihr entfernte. Wenn das wirklich ein Vogel war, musste ihn doch jemand fliegen sehen! Warum war da nichts zu erkennen?
    Pfarrer Schindel befeuchtete sich schon zum zehnten Mal die Lippen, um etwas zu sagen, fand aber keine Stille, die so geräumig war, dass er seine Worte darin hätte verstauen können. Der Mann mit dem Spitzbauch leuchtete mit seiner Taschenlampe in der falschen Richtung herum, hartnäckig und unbeirrbar, streifte sogar den Gekreuzigten mit dem Strahl. Sonja war es, als zucke der Christus unter dem kalten Licht zusammen.
    Miriam zu ihrer Linken war wie in Stein gemeißelt. Sie biss so ausdauernd auf ihre Unterlippe, dass ihre Schneidezähne rot vom Lippenstift geworden waren. Das Mädchen rechts von ihr dagegen, Julie, faltete ihren unnötig gewordenen Spickzettel wie besessen auf und zu. Allmählich kehrte etwas Ruhe in der Kirche ein. Das Krächzen ebbte ab. Die meisten Anwesenden nahmen wieder Platz. Auch die Konfirmanden setzten sich, und selbst der Mann mit dem Spitzbauch schaltete seine Taschenlampe ab, ging jedoch nicht zu seiner Bank zurück, sondern drückte sich an der linken Wand herum und hörte nicht auf, nach oben zu spähen.
    „Wir wollen unser Glaubensbekenntnis wiederholen“, fand der Pfarrer zu seiner Rolle zurück. Er bemühte sich, langsam zu sprechen. Salbungsvoll. „Wenngleich ich überzeugt bin, dass Gott es in unseren Herzen lesen kann, liebe Gemeinde, so denke ich doch, er will es aus unseren Mündern hören. Also: Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den …“
    Unvermittelt begann die Orgel zu spielen. Dröhnend erfüllten die schweren Klänge das Kirchenschiff. Es war nicht das Vorspiel eines Kirchenlieds, es war überhaupt keine Melodie – es klang, als schlüge jemand ohne jeden Sinn für Harmonie blind in die Tasten, mal eine, mal mehrere erwischend. So ungefähr musste es sich anhören, wenn ein Hund über ein Orgelmanual sprang und sich zwischendurch darauf herumwälzte.
    Der Lärm währte einige Sekunden, dann brach er abrupt ab, für einen Augenblick nur, und nach einem Augenblick der Stille durchdrang ein hoher, heulender Ton das Gotteshaus. Es war ein Ton, wie Sonja ihn in ihrem Leben noch nie gehört hatte. Sie hoffte, dass kein Mensch diesen Laut ausstieß, sondern ein Tier, oder, besser noch, dass es ein mechanischer Laut war, der nur nach einem Schrei klang, so wie man in manchen Zügen und S-Bahnen auf bestimmten Gleisstrecken den Eindruck hatte, ein Kind weinen zu hören.
    Der Laut war noch keine zwei Sekunden alt, da wurde er von neuem Orgellärm überlagert, diesmal von einer ohrenbetäubenden Kakofonie aus Dutzenden übereinandergestapelten Tönen, einem Klangbrei, der alles überschwemmte und in dem man geradezu zu ertrinken glaubte. Sonja sah viele Menschen die Hände auf die Ohren pressen. Sie tat es nicht. Miriam tat es nicht. Der Pfarrer tat es nicht.
    Der Mann mit der Taschenlampe leuchtete zur Orgelempore hinauf. Sein Gesicht verzerrte sich. Man hörte ihn nicht, aber seinen Mundbewegungen nach zu urteilen schrie er: „Oh mein Gott!“ Was sah er dort oben?
    Ein paar Männer sprangen auf und hasteten zu der gut versteckten Treppe in Eingangsnähe, die zur Orgelempore führte. Auch Onkel Werner war unter ihnen. Sonja konnte nichts tun als ihnen nachzusehen, und den meisten anderen ging es ähnlich. Wenn das Tier nicht geschrien hatte, dann konnte der entsetzliche Laut nur aus der Kehle des Organisten gedrungen sein. Sonja kannte den Mann. Es war ein pensionierter Lehrer, den sie in der fünften Klasse einmal in Mathe gehabt hatte. Sie schaffte es nicht, den Laut mit ihm in Verbindung zu bringen.
    Wenn das Dröhnen nicht gewesen wäre, hätte man vielleicht einen klaren Gedanken fassen können! So fühlte es sich an, als würde die Kirche unter dem Druck der Schallwellen von innen heraus bersten.
    Es dauerte
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