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Freddy - Fremde Orte - Blick

Freddy - Fremde Orte - Blick

Titel: Freddy - Fremde Orte - Blick
Autoren: Martin Clauß
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zweifelhaft. Das Knarren der Türen konnte zwar von dem Lärm der Orgel übertönt worden sein, nachdem der Verwundete mit dem Oberkörper auf die Manuale gekippt war, um sich zu schützen. Doch hätte sich das Hauptportal geöffnet, wäre dies hundertprozentig jemandem aufgefallen. Der Täter konnte sich höchstens durch die Seitentür aus dem Staub gemacht haben. Natürlich erklärte auch diese Theorie nicht das alberne Theater mit der Big Jim-Figur und dem Plüschaffen.
    „Ich will zu Freddy, egal, in welchem Zustand er ist“, bekräftigte Sonja und stieß Onkel Werner zu Seite. Onkel Werner war zu keiner Form von Gewalt gegen Menschen fähig, auch nicht zu sanfter oder notwendiger Gewalt. Als seine Nichte sich an ihm vorbeidrängte, hatte er nicht einmal den Schneid, sie an ihrem Kleid festzuhalten. Mehr als ein hilfloses „Sonnenschein!“ gab er nicht von sich.
    Sonja nahm immer zwei Stufen auf einmal und erreichte den Raum, der ganz in dunkles Eichenholz gekleidet war. Das hier war ein besonders finsterer Ort in dieser düsteren Kirche, und man fragte sich, wie der Organist unter diesen Lichtverhältnissen seine Noten zu lesen vermochte. Tatsächlich streiften Sonjas Blicke einige Blutspuren – es waren längst nicht so viele, wie sie befürchtet hatte: einige Tropfen auf dem untersten Orgelmanual, einige auf den Bodendielen. Doch etwas traf sie wie ein Donnerschlag aus heiterem Himmel.
    Vor der Orgel stand ein Mann, den sie vorher in den Bankreihen gesehen hatte. Er war ihr aufgefallen, weil er mit seinem borniert angehobenen Kopf, seinen kalten, von oben herab taxierenden Augen und seinen missbilligend herabgezogenen Mundwinkeln wie ein arroganter Adliger wirkte, und das, obwohl er noch sehr jung war. Er musste so etwa in Onkel Werners Alter sein, Ende der Zwanzig, doch das war auch schon die einzige Gemeinsamkeit, die er mit ihrem Onkel hatte. Abgesehen davon konnte sich Sonja keine zwei unterschiedlicheren Männer vorstellen.
    Dieser hochnäsige Schnösel stand mit einem Fuß auf einem Stofftier! In der Hand hielt er einen Stab mit einem Haken daran – sicher benutzte man das Ding gewöhnlich, um irgendetwas auf- und abzuhängen. Der Mann hatte den zur Waffe umfunktionierten Hakenstock erhoben und stieß jetzt damit auf den Plüschaffen ein. Er tat dies nicht zum ersten Mal, denn die Puppe wies bereits mehrere ausgefranste Löcher in der Brust auf.
    „Aufhöreeeen!“, brüllte Sonja, so laut sie konnte. Nach ihrem Schrei war es in der Kirche totenstill. Nur der Mann, dem der Befehl galt, scherte sich nicht darum. Ungerührt verpasste er dem wehrlosen Stofftier einen weiteren Hieb, erst dann war Sonja bei ihm und konnte ihm den Stab aus der Hand prellen. Das Mädchen gab dem hageren Mann einen heftigen Schlag vor die Brust. Er fiel gegen das Geländer der Empore, welches seinem Gewicht glücklicherweise (auch wenn Sonja in ihrer Wut anders dachte) standhielt. Sie hob Freddy auf und presste ihn gegen ihre Brust. Dabei heulte und heulte sie.
    „You’re a bit old for a cuddly toy“, hörte sie die kühle Stimme des Mannes. „Aren’t you, mein Kind?“
    „Halten Sie die Klappe!“, fauchte sie schluchzend. „Das werden Sie noch bereuen.“ Sie war im Begriff, etwas von Schadensersatz zu sagen, doch sie unterließ es. Sie wollte nicht klingen wie Thorstens Vater. Hier ging es um etwas viel Wichtigeres als Sachwerte. Dieser schreckliche Mensch hatte das Teuerste zerstört, was es in ihrem Leben gab. Es war wie damals, als ihr Vater starb, nur plötzlicher, unerwarteter …
    „What is it that you want me to hold? I’m sorry if my German is not quite sufficient to explain why I was forced to do what I did a moment ago.“
    Sonja verstand, was er sagte. Sie lernte seit mehr als vier Jahren Englisch, und es gehörte zu ihren besten Fächern. Außerdem sprach sie mit Julie manchmal ein paar Takte Englisch. Aber in diesem Moment hätte sie keinen einzigen Satz der Erwiderung auf die Beine stellen können. Sie hatte genug damit zu tun, nicht zusammenzubrechen, das zerschlissene Bündel unter sich zu begraben und sich auf den Dielen auszuheulen. Gerade die Überheblichkeit ihres Gegenübers zwang sie dazu, sich diese Blöße nicht zu geben. Es war nicht einfach, die Fassung zu behalten, wenn für einen die Welt unterging, aber sie versuchte es.
    Der Mann machte einen Schritt auf sie zu und fragte in seinem polierten, stets irgendwie angepisst klingenden Queen’s English: „Why don’t we go downstairs,
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