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Freddy - Fremde Orte - Blick

Freddy - Fremde Orte - Blick

Titel: Freddy - Fremde Orte - Blick
Autoren: Martin Clauß
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bestimmt schon zum siebten oder achten Mal.
    Nach einer kurzen Diskussion nahm die Frau den Hörer ab – und ließ ihn beinahe wieder fallen. Das Blut wich aus ihrem Gesicht, und als Madoka aus der Küche kam, reichte sie ihr den Hörer.
    „Otôsan!“, rief sie, und Melanie erfasste in diesem Moment ganz intuitiv die Bedeutung dieses Wortes: Vater!
    Den Rest verstand sie nicht mehr.
    Madoka sagte: „Das ist kein Zufall, oder?“
    „Nein“, antwortete Dr. Andô. „Ich habe durch Melanies Augen gesehen, wo du bist. Gut, dass deine Mutter in all den Jahren weder ihre Adresse noch ihre Telefonnummer gewechselt hat.“
    „Ganz im Gegensatz zu dir.“
    „Ja, das war unvermeidlich. Hör zu, Madoka, ich muss mit dir reden, sofort!“
    „Wo bist du?“
    „Keine fünf Kilometer von dir entfernt.“ Er nannte seine Adresse, und seine Tochter notierte sie. „Du musst schnell sein! Nimm dir am besten ein Taxi. Ich …“ Es krachte in der Leitung.
    „Was sind das für Geräusche? Bist du noch da?“
    „Ja, ich … ich fürchte, das sind die Schatten. Was sie wollen, weiß ich nicht, aber ich denke nicht, dass sie gefährlich sind. Wenn sie mich töten wollten, hätten sie das schon lange … Verdammt, sie gehen nach oben. Der Film! Ich hätte ihn dir so gerne …“
    Es gab einen Schlag, der alles Mögliche bedeuten konnte. Madoka murmelte auf Deutsch in Melanies Richtung: „Vielleicht hat er nur den Hörer fallen gelassen. Aber vielleicht waren das auch Kampfgeräusche.“ Sie riss die Augen auf. „Melanie, wir fahren zu meinem Vater.“ Ihre Mutter besaß kein Auto, also rief sie ein Taxi, wie ihr Vater es ihr geraten hatte.

9
    Dr. Andô warf den Hörer von sich und stürzte auf die Treppe zu. Ihr Aussehen änderte sich ständig. Sie war von Schatten belagert, deren flache Körper gemeinsam bizarre Muster ergaben. Mit nichts anderem zu vergleichen war die merkwürdige Art der Fortbewegung, mit der sie sich der Tür zu seiner Dachkammer näherten.
    Nein. Jetzt wollte er den Film nicht mehr hergeben. Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte er ihn den Schatten gerne anvertraut. Aber nun, wo er diese Welt vor den Flammen gerettet und schließlich selbst betreten hatte, fühlte er sich verantwortlich dafür. Er polterte die Treppe hinauf, zwischen den Schatten hindurch, um den Film zuerst zu erreichen. Erstmals berührte er sie. Sie waren nicht körperlos. Ihre Körper fühlten sich ein wenig wie Stein an, hart und unbeweglich. Sie schienen keine Gelenke zu haben, sondern starr und totengleich wie Statuen dort zu stehen. Doch stets nur für einen Augenblick, ehe sie verschwanden und an einem anderen Ort in einer anderen Stellung wieder erschienen.
    Sie wegzudrängen, war unmöglich. Es war, als kämpfe man gegen Felsen. Andô drückte sich zwischen ihnen hindurch und erreichte das Zimmer. Es war voll von ihnen und den knackenden Geräuschen, die sie machten. Der Film lag in ihren Händen und hüpfte mit ihnen von einer Stelle zur nächsten. Der Psychiater griff danach, doch er glitt aus seinen Fingern in diese Zwischendimension oder wohin sie auch immer entschwanden, bevor sie wieder an einem anderen Ort hervortauchten.
    „Nicht“, presste er hervor. „Nicht den Film! Ich habe erst angefangen zu begreifen …“
    Sie waren schnell, ihre Sprünge wurden größer, sie bewegten sich wieder zurück, aus dem Zimmer hinaus, die Treppe hinunter, der Tür zu. Andô stürzte hinter ihnen her, überholte sie, hielt die Tür zu, schob den Riegel vor. Im nächsten Moment zerplatzten die Fensterscheiben, und die Schatten sprangen durch die scherbengespickten Fenster in die Nacht.
    Andô drückte den Riegel zurück, riss die Tür auf, rannte in den Vorgarten und in die winzige Gasse hinaus. Sie verschwanden nach allen Seiten, als spielte die Richtung für sie keine Rolle. Doch welcher von ihnen hatte den Film? Er stolperte die Gasse entlang, drehte sich um und lief in die andere Richtung.
    Dort prallte er gegen jemanden. Ein Kind schrie auf. Er hatte einen kleinen Jungen angerempelt und umgestoßen. Was trieb er zu dieser Zeit hier? Verwirrt half Andô ihm auf die Beine. In der Dunkelheit hatte er ihn nicht wahrgenommen. Gemeinsam taumelten sie weiter. Was sie gesehen hatten, hatte sie sprachlos gemacht.

10
    Melanie zog innerlich den Hut vor dem Taxifahrer. Sie selbst war eine halsbrecherische Fahrerin, aber dieser kleine, bis auf die Knochen ausgemergelte Mann sah unter seiner viel zu großen Dienstmütze nicht nur aus wie der
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