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Freddy - Fremde Orte - Blick

Freddy - Fremde Orte - Blick

Titel: Freddy - Fremde Orte - Blick
Autoren: Martin Clauß
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Geräusch, das nicht von einem der Menschen stammte. Es kam von oben. Zuerst dachte sie, der Orgelspieler hätte auf der Empore etwas fallengelassen. Das leise Knacken wiederholte sich, und sie spürte, dass nun alle die Luft anhielten, auf das Geräusch lauschten und nicht mehr auf das arme Mädchen, das seinen Text vergessen hatte. Sonja wollte die Zeit nutzen, um auf dem mehrfach gefalteten Blatt mit den winzigen Buchstaben endlich ihren Einsatz zu finden, da glitt ihr das Papier aus den zitternden Fingern.
    Als sie sich danach bückte, hallte ein Brummen durch das Kirchengewölbe, ein dumpfes Krächzen, nicht sehr laut. Es klang nicht, als stamme es von einem Menschen. Sonja erinnerte das Geräusch eher an Aufenthalte in Tierparks. Ein Schaf? Ein Vogel?
    Sie ließ den Zettel Zettel sein und richtete sich auf. Die meisten Anwesenden blickten nach oben. Wahrscheinlich fiel den meisten in diesem Moment erst auf, wie dunkel es dort war. Beinahe wie im dichten Blätterdach des Dschungels.
    „Ich glaube, hier möchte noch jemand dieser schönen Feier beiwohnen“, sagte Pfarrer Schindel verschmitzt in sein Mikrofon. „Und wie heißt es bei Hiob? ‚Draußen musste der Gast nicht bleiben, sondern meine Tür tat ich dem Wanderer auf.‘“ Herzhaftes Gelächter folgte. In der Zwischenzeit schickte der Pfarrer drängende Blicke in Sonjas Richtung. Julie hatte auf dem Steinboden nach dem Spickzettel gesucht und ihn gefunden. Diesmal behielt sie ihn für sich.
    Sonja erinnerte sich unvermittelt an den Anfangssatz ihres Textes und schaffte es irgendwie, sich durch die sechs Zeilen zu manövrieren. Sie verstand nicht, was sie sagte, hielt nur Ausschau nach dem Verursacher der Geräusche, aber sie spürte intuitiv, dass sie beim Aufsagen keinen Fehler gemacht hatte. Kaum war die letzte Silbe verklungen, begann Julie mit ihrem Abschnitt. Von da an gab es keine größeren Pannen mehr, und der Text war im Nu abgespult, sodass sie jetzt gemeinsam das Glaubensbekenntnis sprechen konnten.
    Aber das Tier, das sich irgendwo da oben in den Schatten bewegte, kam nicht zur Ruhe. Plötzlich stieß es das Krächzen in Folge aus, so laut und unerbittlich, dass die Menschen in der Kirche Mühe hatten, den wichtigen Text zu Ende zu bringen. Viele stiegen bei „hinabgefahren in das Reich des Todes“ aus und konzentrierten sich ganz auf das Gewölbe über ihnen, ohne Jesus am dritten Tage von den Toten auferstehen zu lassen.
    Die letzten Sätze musste der Pfarrer alleine sprechen. Allmählich rötete sich sein Gesicht, und er schob nervös seine kleine Brille höher auf die Nase. Erst beim Amen stimmten wieder einige ein.
    „Liebe Konfirmandinnen, liebe Konfirmanden, liebe Festgemeinde“, schnaufte der Geistliche. „Jede Konfirmation ist anders, und die heutige ist etwas ganz Besonderes. Ich denke, ehe wir fortfahren, sollten wir … sollten wir …“
    Das Krächzen ertönte erneut. Es klang jetzt spöttisch und drohend.
    Sonja sah zu ihrer Mutter hinüber. Sie wirkte nicht amüsiert oder irritiert wie die anderen Anwesenden. Vielmehr blickte sie teilnahmslos vor sich hin.
    Jemand aus der zweiten Reihe lief den Mittelgang nach vorne, ein Mann, mit hängenden Schultern und spitzem Bauch, den Kopf erhoben, als hätte er etwas zu sagen. Er passierte den hilflosen Pfarrer mit einem kurzen Nicken und blieb unweit des Altars stehen. Schon im Gehen hatte er eine kleine schwarze Taschenlampe aus seinem Jackett gezogen, die er nun einschaltete und nach oben richtete. Für einen Moment verstummten die Geräusche. Während die Menschen unten den Atem anhielten, schien das Tier dort oben dasselbe zu tun. Mit dem Unterschied, dass das Tier die Menschen wahrscheinlich sehen konnte.
    Und allmählich bekam Sonja es mit der Angst zu tun. Es war nicht die Sorte Angst, die einen aufschreien oder wild umherrennen lässt. Es handelte sich um jene Art von Angst, die einen Menschen wie eine riesige Hand umklammert, ihn lähmt und knebelt. Sonja ließ sich auf die Bank fallen, alle anderen blieben stehen.
    „Vorsicht!“, kreischte eine Frauenstimme.
    Sonja beugte sich vor, um an Miriam vorbeizusehen. Sie wurde Zeuge, wie der Mann mit der Taschenlampe einen hastigen Schritt zur Seite machte. Gerade noch rechtzeitig, denn an der Stelle, an der er eben noch gestanden hatte, schlug in diesem Moment etwas auf. Der Gegenstand klapperte auf dem Steinboden.
    Einige der Anwesenden raunten und plapperten durcheinander. In der Reihe der Konfirmanden herrschte Stille.
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