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Freddy - Fremde Orte - Blick

Freddy - Fremde Orte - Blick

Titel: Freddy - Fremde Orte - Blick
Autoren: Martin Clauß
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Kirche eng wirken ließ. Die Beleuchtung konnte man bestenfalls schummrig nennen, große Teile des Gewölbes lagen im Dunkeln, und auch im unteren Teil der Kirche, auf den Bänken und Gängen lagen Schatten über Schatten. An sonnigen Tagen konnten die hohen, schmalen, in lebendigen Gelbtönen gehaltenen Kirchenfenster goldfarbenes Licht in das dunkle Gotteshaus bringen. Heute nahmen zwei Dutzend 80 Watt-Glühbirnen den aussichtslosen Kampf auf. Der zweihundert Jahre alte Gekreuzigte aus bemaltem Holz hing über dem Altar, war leicht überlebensgroß gearbeitet, und während einige seiner Wunden von dem Künstler absichtlich angebracht worden waren, hatte ihm an anderen Stellen die Zeit Risse und Schrunden zugefügt. Er war an seinem Kreuz weit hinabgerutscht und wirkte schwach und ausgemergelt. Sein Kopf war zur Seite gekippt, sein Gesicht wies nach unten und ließ nicht erkennen, ob seine Augen geöffnet waren. Sonja, die nie Schwierigkeiten gehabt hatte, sich unbelebte Dinge lebendig vorzustellen, empfand jedes Mal bohrendes Mitleid mit der Figur, die Jahrhunderten gequält wurde, die jeden Sonntag in der Predigt von ihrer Auferstehung hörte und noch nicht einmal sterben durfte.
    Unter feierlichen Orgelklängen, niederdrückend und gleichzeitig erhebend, hatten die Familienangehörigen der Kinder längst Platz genommen, und die meisten drehten sich nun nach den Konfirmanden um. Insgesamt waren schätzungsweise fünfzig Menschen gekommen. Sonja suchte ihre Großmutter und fand sie nicht. Dafür entdeckte sie Miriams Eltern, ihr Vater wie immer mit hochrotem Kopf, ihre Mutter gebeugt und verschüchtert. Dann sah sie links ihren eigenen Onkel Werner. Er hatte sich in einen Anzug geworfen, sicher zum ersten Mal in seinem Leben, und sich das lange Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Musste neben ihm nicht ihre Großmutter sitzen? Von hinten war nichts von einem schlohweißen Haardutt zu erkennen. Neben Onkel Werner saß vielmehr eine Frau mit schmutziggrauen, schlecht frisierten Haaren. Diese Person gehörte zu den wenigen, die sich nicht nach den Kindern umwandten, sondern stur nach vorn blickten.
    Für die Konfirmanden war die erste Reihe auf der rechten Seite reserviert. Auf dem Weg dorthin beschlich Sonja ein merkwürdiges Gefühl, so als würde sie jemand mit spürbaren Blicken verstohlen betrachten. Als sie den Kopf drehte, blieb ihr Blick an der grauhaarigen Frau neben Onkel Werner hängen. Sonja prallte gegen das Mädchen vor sich, strauchelte, wirbelte herum, schlug sich dabei die Hand an der Kirchenbank und stieß einen Schrei aus. Glücklicherweise spielte in diesem Moment die Orgel einen dröhnenden Schlussakkord. Trotzdem starrten die meisten Menschen in der Kirche sie an.
    Neben Onkel Werner saß ihre Mutter.
    Sie sah aus wie eine unterernährte Siebzigjährige, die Augen winzig und wässrig, die Haut fleckig, die Hände schmal, zerknüllte Dinger aus faltiger Haut. Ihre Kiefer mahlten unablässig. Vor etwa zwei Jahren hatte Sonja sie zum letzten Mal in einem Heim für Alkoholkranke besucht, und seither war sie weiter gealtert. Niemand wäre auf die Idee gekommen, sie könne die Schwester des langhaarigen Mannes neben ihr sein. Jetzt wurde Sonja auch klar, warum ihre Großmutter kurzfristig darauf verzichtete, ihre Enkelin an diesem wichtigen Tag in der Kirche zu sehen. Wahrscheinlich war sie sogar hier gewesen, vor oder in der Kirche, doch als sie dieses Wrack erblickte, das ihre Schwiegertochter war, musste sie auf dem Absatz kehrtgemacht haben. So war ihre Großmutter. Sie interessierte es nicht, warum diese Frau so geworden war, für sie zählte nur, wie sie aussah und wie sie sich gab.
    Und im Grunde ging es Sonja ähnlich. Zwei Jahre lang hatte sie ihre Mutter nicht besucht. Zwei Jahre. Die halbe Stunde, die sie damals bei ihr verbracht hatte, war so unerträglich gewesen wie ein Vollbad in Eiswasser.
    Während sie sich von Miriam und dem Pfarrer auf ihren Platz dirigieren ließ, kam ihr der Gedanke, dass Mutter hier war, um sich an ihr zu rächen. Dafür, dass sie bereitwillig von ihr weggegangen war, dass sie sie seither kaum besucht, ihr kaum geschrieben hatte. Wenn sie Sonja mit ihrem Kommen eine Freude hätte machen wollen, hätte sie sich vorher angemeldet. Nein, dann hätte Sonja ihr vielleicht verboten zu kommen. Wer tat hier wem Unrecht? Sie ihrer Mutter, ihre Mutter ihr, ihre Großmutter ihrer Mutter? Oder war es am Ende nur die Creutzfeld-Jakob-Krankheit, die ihnen allen Böses angetan
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