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Frau des Windes - Roman

Frau des Windes - Roman

Titel: Frau des Windes - Roman
Autoren: Insel Verlag
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des Aquariums bockt ein Wildpferd mit langer Mähne, ein zweites spiegelt sich in den Augen des Delfins. Sind Delfine Pferde? Leonora erzählt ihnen leise von Crookhey Hall, von den Sidhe, von Max und ihrer Flucht aus Saint-Martin d’Ardèche, von den entsetzlichen Krämpfen in Santander, von Mauries Tod, von Nanny, von Remedios, von José Horna, und sie trösten sie mit ihren kleinen, glasigen, halb geschlossenen Augen, die weder die von Gerard sind noch die von Ernst oder von Luis Morales, sondern Augen, die sie inständig bitten, mit ihnen zu spielen.
    Ein letztes Mal streichelt Leonora den glitschigen Rücken. Der Delfin hebt den Kopf aus dem Wasser, um ihr zu sagen, dass sie Alice und der Weißen Göttin ähnelt, der Tochter des Minotaurus, dem Großen Bären, Penelope, Dulcinea und Beatrice und auch der Liebe, die Himmel und Sterne bewegt.
    »Ich habe Hunger, Leonora, komm, wir fahren zu dir, setzen uns in die Küche und essen Yolanda auf. Du rufst sie, und wenn sie hereinkommt, stürzen wir uns auf sie und reißen ihr das Gesicht ab. Das ziehe ich mir dann heute Abend zum Ausgehen an.«
    »Nur wenn du mir versprichst, sie zu töten, bevor du ihr das Gesicht abreißt, sonst tut es ihr zu sehr weh.«
    »Ich will, dass wir jetzt sofort gehen«, fordert Pepita.
    »Du bist ja blass wie eine Marmorstatue«, erwidert Leonora besorgt.
    Plötzlich wachsen dem jungen Mädchen Federn, an Schultern, Hals, Augenbrauen, Wimpern, Armen und Händen schauen sie aus der Haut. Statt ihrer Haare erblickt Leonora auf ihrem Kopf eine Krone aus weißen Federn, die wie Schnee in der mexikanischen Sonne glänzen. Ihre Ohren bewegen sich wie die eines Pferdes. Pepita erhebt sich, und ein strahlender Schwanz fegt über den Boden.
    »Steh auf, Leonora, schnell.« Ihre Hufe donnern.
    »Sind wir im Bois de Boulogne, Pepita?«
    »Natürlich nicht! Wir sind am Hang des Vulkans Ajusco, es ist sehr kalt, das Eis kommt von den Bergen herab, auch die Pferde sind aus Eis, schau mal, dort, die verschneiten Bäume. Neben dir stehen zwei aneinandergebundene große, schwarze Pferde.
    »Ich sehe nichts.«
    »Weil du selbst ein kleines weißes Pferd bist, das sich über den Boden wälzt und im Sterben liegt.«
    »Werde ich sterben?«
    »Du erlebst den Tod der Tiere am eigenen Leib, du bist wie sie.«
    »Dann werde ich also nicht sterben?«
    »Natürlich nicht! Denk an den Satz, den du dir immer wieder aufgesagt hast, als sie Max mitgenommen haben: ›Ich bin nicht zum Sterben bestimmt.‹ Du wirst einen dunklen Gang betreten und verwandelt am anderen Ende herauskommen.«
    »Sag mir, wie ich dort herauskomme.« Leonora ist argwöhnisch.
    »Versuch, mit allen Kräften, ans andere Ufer zu gelangen, wie Caer. Und jetzt gib mir deinen Arm, los, ich habe es eilig, Leonora, ich habe es sehr eilig.«
    »Was musst du denn tun, es sind doch Ferien?«
    »Eine Gigantin malen.«
     
     
     

Danksagung
    Leonora Carringtons Erzählungen Der kleine Francis und Die Steintür sowie ihr beeindruckender Bericht Unten zeichnen drei der wichtigsten Ereignisse im Leben der Malerin nach. Auch in Das Haus der Angst, Ein Flanellnachthemd, Die ovale Dame, Das Höhrrohr und Das siebente Pferd ist Leonora sehr gut wiederzuerkennen. Daher die inhaltlichen Überschneidungen mit dem Buch Max und Leonora von Julotte Roche, die in Saint-Martin d’Ardèche wohnt und einige Dorfbewohner interviewt hat, die zur gleichen Zeit wie die beiden Maler dort gelebt haben.
    Ursprünglich wollte ich einen von Leonora Carrington inspirierten Roman schreiben, dann aber beschloss ich, mich nicht nur indirekt auf sie zu beziehen, sondern über sie selbst zu schreiben. Auch war es mir ein Anliegen, an die Hommage von Lourdes Andrade anzuknüpfen, die sich am intensivsten mit dem Surrealismus in Mexiko befasst hat und am Donnerstag, den 26. Oktober 2002, in Chilpancingo, Guerrero, starb, von einem Betrunkenen überfahren. Ihr Buch Leyendas de la novia del viento ( Legenden der Windsbraut ), das sich mit Carringtons literarischem Werk befasst, konnte die Autorin an diesem Tag nicht mehr präsentieren. Lourdes ist häufig mit Leonora in der Colonia Roma spazieren gegangen. Ihnen beiden zu Ehren bin ich ihre gemeinsame Strecke noch einmal abgelaufen.
    Seit den Fünfzigerjahren habe ich Leonora von Zeit zu Zeit besucht und interviewt. Einmal lud sie mich zu einem Mole ein, der so schwarz war wie die Kohlebergwerke von Lancashire. Chiki und ihre Söhne Gaby und Pablo, die damals noch Kinder waren, saßen
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