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Frau des Windes - Roman

Frau des Windes - Roman

Titel: Frau des Windes - Roman
Autoren: Insel Verlag
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Ich bin eine Stute, die durch die Nacht reitet.‹
    Obwohl sie selbst nicht im Land ist, beteiligt Leonora sich an der Ausstellung ›Die Surrealisten in Mexiko‹ im Nationalmuseum für Moderne Kunst. In New York eröffnet sie eine eigene Ausstellung in der Brewster Gallery. 1987 erscheinen die Erzählungssammlungen Das siebente Pferd und Das Haus der Angst .
    In Richmond steht sie später auf als sonst. Dort begleitet sie ihren Sohn Pablo zu den Unternehmungen, die er ihr vorschlägt. Nachmittags setzt sie sich in einen Park, liest, raucht und denkt an Baskerville, der wieder in seiner Hundepension lebt. Während einer New-York-Reise mit Pablo laufen sie gemeinsam durchs Metropolitan und durch die Frick Collection in der 70th Street; denn sie liebt es, sich die Meinung ihres Sohnes anzuhören, dreht sich vor jedem Bild zu ihm, um zu sehen, wie er reagiert, und fragt ihn: »Was meinst du?« Sie belehrt oder korrigiert ihn nicht, hört ihm nur zu.
    Den Buchhändler Carl Hoffmann besucht sie auch wieder. Als er sie sieht, fällt er fast von seiner am Bücherregal lehnenden Leiter. Was für eine Überraschung! Sie beschließen, im selben Restaurant zu essen wie beim letzten Mal. Leonora kommt abermals auf ihre Situation als Frau zu sprechen:
    »Geboren bin ich als weibliches menschliches Tier, und man hat mir gesagt, das bedeute, dass ich eine Frau bin. ›Verlieb dich in einen Mann, und du wirst erfahren, was es heißt, eine Frau zu sein‹, sagte man mir. Mehrmals habe ich mich verliebt, ohne es zu erfahren. ›Gebäre, und du wirst es erfahren.‹ Ich habe zweimal geboren, und danach war ich auch nicht schlauer. Bin ich diejenige, die beobachtet, oder diejenige, die von einer Menschenmenge beobachtet wird?«
    »Du solltest dich nie fragen, wer du warst, sondern wer du jetzt, in diesem Augenblick, bist.«
    »Wie Alice, die zur Raupe sagt: ›Ich weiß nicht, wer ich bin, ich weiß nur, wer ich war, als ich heute früh aufgestanden bin, aber ich muss mich seitdem mehrmals verwandelt haben.‹«
    »Ganz genau …«
    »Denn wenn ich das Gleiche wie meine Gedanken bin, dann könnte ich alles Mögliche sein, eine Hühnersuppe, eine Schere, ein Krokodil, ein Körper, ein Leopard, sogar ein Bierkrug. Wenn ich das Gleiche wie meine Gefühle bin, bin ich Liebe, Hass, Ärger, Langeweile, Glück, Stolz, Demut, Schmerz, Wahnsinn.«
    »Genuss.«
    »In erster Linie bin ich mein Körper und sehne mich nach einer Identität, die mich entmythisiert.«
    So redselig war Leonora seit Jahren nicht mehr. Carl, der sie durch seine Brille betrachtet, findet sie wunderschön, wenn sie so leidenschaftlich spricht.
    »Deshalb versuche ich, mich auf die Fakten zu beschränken. Ich bin ein weibliches Wesen der Gattung Mensch, das dabei ist, alt zu werden. Das ist keine besonders originelle oder erbauliche Feststellung. Aber mich tröstet der Gedanke, dass ich ein Samen bin, der sich teilen und zu etwas anderem aufkeimen kann als zu dem, was ich zu sein scheine.«
    »Frauen wie du geben einem neue Zuversicht.«
    »Wie kannst du so etwas sagen? Schau mich genau an, dann siehst du nur Fragezeichen.«
    Leonora blickt ihm geradewegs in die Augen. Carl will ihr nicht schmeicheln, er glaubt an sie, und dies ist seine Art, ihr für das Privileg zu danken, das sie ihm mit ihren offenen Worten über sich selbst zuteilwerden lässt.
    »Ich habe Angst vor dem Tod, weil niemand ihn mir erklärt hat. In meinem Innern sind viele Räume, und in einem dieser Räume befindet sich neben meinen Träumen auch meine Wiederkehr auf die Erde.«
    Carl begleitet sie bis zu ihrer Wohnung gegenüber vom Gramercy Park.
    »Leonora«, sagt er, »ich habe den Schlüssel zu diesem Park, wir können hineingehen, wann immer du willst.«

Wie fühlt sich der Tod an?
    Leonoras Gemälde werden begehrter und gewinnen immer mehr an Wert, deshalb kann sie sich nun Dinge leisten, die Chiki nicht gutheißt.
    Sie reist nach Richmond, um Pablo zu besuchen. Da Gaby dort zur gleichen Zeit an einem philosophischen Kongress teilnimmt, kommen alle drei zusammen.
    »Weißt du noch, wie du uns ins ›Cine de las Américas‹ mitgenommen hast und wir uns drei Filme hintereinander angeschaut haben?«, fragt Pablo lächelnd.
    Das Wohl ihrer Söhne geht ihr über alles. Obwohl beide erwachsen sind, macht sie sich noch die gleichen Sorgen wie früher: »Hast du heute ordentlich gegessen, Pablo?«, »Wie dünn du bist!«, »Zieh dich warm an, Gaby«, »Das Frühstück dürft ihr nicht ausfallen lassen,
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