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Frau des Windes - Roman

Frau des Windes - Roman

Titel: Frau des Windes - Roman
Autoren: Insel Verlag
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Erzählen ordnet Leonora Bilder und Erlebnisse, und wie ein Sturzbach kehrt die vergessene Vergangenheit zurück.
    »Mein Vater, Carrington, hätte mich ewig daran gehindert, mein eigenes Leben aufzubauen, dagegen habe ich mich gewehrt. Aber heute, Jahre später, glaube ich, dass er gar kein so großer Feind war, denn selbst gegen seinen Willen konnte ich das machen, was ich machen wollte.«
    Sie schweigt. Schade, dass sie ihn vor seinem Tod nicht mehr gesehen hat.
    »Mein Vater betrachtete seine Kinder als Mitglieder einer Gesellschaft mit unumstößlichen Regeln. In Crookhey Hall und auch später in Hazelwood hat Imperial Chemical Industries das Leben im Haus diktiert. Die Firma stand für den Erfolg einer Dynastie – erst der Großvater, dann der Vater.«
    »Hast du deinen Großvater gekannt?«
    »Ja, er war Textilingenieur. Er hat eine Faser erfunden, die uns reich gemacht hat.«
    »Vielleicht ist dein Großvater der Vater der Kondome.«
    »Kondome?«
    »Präservative, um nicht schwanger zu werden.«
    »Aber, Kind! Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der man mit feschen Offizieren Wiener Walzer getanzt hat. Was redest du nur? Jetzt muss ich dir mal was sagen: Du hast großartige Fähigkeiten und setzt alles daran, dich selbst zu zerstören.«
    »Wirklich?«, erwidert Pepita überrascht.
    »Warum lebst du nicht in einem Kohlkopf?«
    »Warum denn in einem Kohlkopf?«
    »Im Kohl kommen die Kinder zur Welt, und dorthin solltest du zurückkehren.«
    Pepita nimmt sie mit ins Universitätsmuseum für Zeitgenössische Kunst, »damit du die aktuelle Kunst kennenlernst. Die ist super, du wirst sehen«, kündigt sie an. Am Arm ihrer jungen Freundin betritt die Malerin die hellen, weiten Räume des Museums. Leonora, die nur das Wort ›Museum‹ gehört hat, war auf flämische Malerei des 15. Jahrhunderts eingestellt – Versuchungen des heiligen Antonius, Gärten der Lüste, die Triptychen von Memling, van der Weyden, Hieronymus Bosch –, stattdessen blenden sie plötzlich die an- und ausgehenden Lichter einer Ampel, grün, gelb, rot, die den Saal wie Blitze durchzucken. Aus einem Lautsprecher dringt höllischer Lärm.
    »Was ist das denn?«
    »Eine Installation. Gefällt sie dir?«
    »Grauenhaft«, sagt Leonora und schüttelt sich.
    Im Raum nebenan steht ein einsamer Schuhkarton vor einer weißen Wand.
    »Auch eine Installation.«
    »Das verstehe ich nicht. Ist Müll jetzt Kunst?«, fragt die Malerin empört. »Selbst Dalís Wahnsinn oder der Nackte von Duchamp sind mir unter die Haut gegangen. Das hier sagt mir überhaupt nichts!«
    »Mir aber.«
    »Warum fliegst du nicht fort, Pepita, du dummes Ding? Ich bin gestern und bin heute, aber Müll bin ich ganz sicher nicht. Was du mir zeigst, ist das Werk des Vicomte de Merdouille und seiner Tochter Trou du Cul«, sagt Leonora und ahnt schon, dass Pepita die Kraftwörter nicht versteht.
    »Wer ist das denn?«
    »Weißt du was, bring mich nach Hause, ich brauche eine ordentliche Tasse Tee«, antwortet Leonora gereizt.
    »Komm, Leonora, übertreib nicht! Diese Künstler sind genauso aufmüpfig, wie die Surrealisten es zu ihrer Zeit waren. Sie sind intellektuelle Agitatoren!«
    »Was? So einen Blödsinn habe ich noch nie gehört. Zwischen Intelligenz und irgendwelchen Taten liegt ein weites Feld. Das hier sind Abfallprodukte.«
    Obwohl sie sich aufregt über Pepita, erzählt sie ihr am nächsten Morgen, dass sie manchmal von Max Ernst träumt, Max, umgeben von Vögeln, die ihm die Flügel entgegenstrecken. Bauch, Brust und Geschlechtsteil malt er ihnen rot an. Dann schnitzt er sie in eine Fläche und macht Knochengerippe aus ihnen.
    »Ihn hat der Wahnsinn fasziniert, weißt du.«
    Pepita begreift, dass Leonora einen Salto mortale gemacht hat und auf dem Boden eines tiefen Schachts gelandet ist, bewusstlos. Zeitlebens hat sie sich von keiner Religion versklaven lassen, sich keiner Ideologie, keiner abstrakten Theorie, keiner künstlerischen Bewegung untergeordnet. Und nichts hat sie daran gehindert, ihre zeitlose, gesellschaftsfeindliche Liebe zu leben, eine leidenschaftliche Liebe, als materia prima, die Liebe, die vielleicht der Wind war, der Nordwind namens Boreas, Herr über zwölf Vollblutpferde, ein Wind, von dem die Stuten trächtig wurden, wenn sie ihm bloß die Kruppe zuwandten.
    »In Saint-Martin d’Ardèche, Pepita, habe ich das kennengelernt, was die Pariser Concierges Folie à deux nannten. Weißt du, was das ist?«
    »Ja, das weiß ich. Ich habe wild gelebt,
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