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Frau des Windes - Roman

Frau des Windes - Roman

Titel: Frau des Windes - Roman
Autoren: Insel Verlag
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zerbrechlich ist alles, man muss aufpassen, wohin man die Füße setzt, und immer wachsam sein.
    »Leonora, erzähl mir bitte von deinen Fortschritten im Unterricht.« Wohlwollen liegt in Harold Carringtons Blick, er freut sich über ihre Intelligenz. Leonora hinterfragt die Worte der Erwachsenen, das überrascht ihn. Auf den Fluren von Crookhey Hall schaut er ihr nach, seiner anmutigen Tochter. Für sie wird er weder Geld noch Mühe scheuen.
    Endlos reihen sich die Unterrichtsstunden aneinander wie die Perlen des Rosenkranzes. Zweimal wöchentlich quält der pummelige Mr. Richardson Leonora mit Klavierunterricht. Ihre langen Finger greifen eine ganze Oktave, deshalb versichert der Lehrer Maurie, aus ihrer Tochter könne eine sehr gute Pianistin werden. Jedes Mal, wenn Richardson seinen Kopf über die Tasten beugt, rutscht ihm seine kleine Brille von der Nase, und Leonora versteckt sie, bis er sie anfleht, sie ihm zurückzugeben. Dann folgen die Fecht- und die Ballettstunde. Sie ähneln einander: Man muss vor- und zurückhüpfen und ins Schwarze treffen. Viel lieber, als auch noch Nähen und Sticken zu lernen, würde sie mit ihren Brüdern durch den Garten tollen, und vor Wut darüber, dass man sie nicht hinauslässt, sticht sie sich in die Fingerkuppen.
    Der rechte Flügel des Hauses gehört ganz den Kindern, die Harold und Maurie ihrer Gouvernante und ihrem Kindermädchen überlassen. Mademoiselle Varenne nimmt die Mahlzeiten mit den Eltern ein, das irische Kindermädchen aber ist Tag und Nacht bei ihnen, deshalb lieben sie es. Mademoiselle Varenne würden die Kinder am liebsten in hohem Bogen und mitsamt der Marseillaise nach Frankreich zurückbefördern. Sie wissen, dass sie eines Tages gehen wird, Mary Kavanaugh dagegen nie. Obwohl sie klein und schlank ist, tut es gut, den Kopf in ihren Schoß zu legen. Sie erzählt aufregende Geschichten von winzigen Wesen, den Sidhe.
    »Warum kann ich sie nicht sehen, Nanny?«
    »Weil sie in der Erde wohnen.«
    »Sind es Zwerge?«
    »Nein, es sind Geister, die manchmal Gestalt annehmen und ans Tageslicht kommen.«
    »Aber warum leben sie unter der Erde?«
    »Weil eines Tages die Gälen, angeführt von Míl Espaíne, aus Spanien gekommen sind und Irland erobert haben. Da haben die Sidhe sich tief in der Erde versteckt, um sich der Zauberei zu widmen.«
    »Selbst wenn die Sidhe klitzeklein wären, könnte ich sie sehen, ich kann alles sehen, Nanny.«
    »Das Allerkleinste hat noch nie jemand gesehen, Leonora, nicht einmal die Wissenschaftler mit ihren Mikroskopen. Big fleas have little fleas / upon their backs, to bite them. / Little fleas have lesser fleas / and so ad infinitum. «
    Die Sidhe hüpfen auf den Tisch, an dem Leonora ihre Aufgaben macht, steigen in die Wanne, wenn sie badet, klettern in ihr Bett, wenn sie schlafen geht. Leise unterhält sie sich mit ihnen: »Kommt, wir gehen zusammen in den Garten«, »Mademoiselle Varenne ist eine Plage, ihr müsst mir helfen, sie wegzuzaubern«, »Sie geht uns auf die Nerven mit ihrem Partizip Perfekt und ihrem Konjunktiv«.
    Mit den Sidhe ist sie sogar noch besser befreundet als mit Gerard. Der hat wie sie Jonathan Swift verschlungen, aber jetzt will er nicht mehr Liliputaner spielen und auch nicht mehr Kaiser Blefuscu um Audienz bitten. Die kleinen Wesen, die aus der Erde schlüpfen, geben Leonora Ratschläge, Gerard hat damit aufgehört, er will auch nicht mehr die Alice von Lewis Carroll sein. Das ist Mädchenkram. Die Sidhe sind klüger als alles auf der Welt, sogar klüger noch als der große Fisch im Teich, und das will was heißen, denn der weiß alles. Leonora bleibt am Ufer stehen, und der Fisch sagt ihr, während der strahlende Silberglanz seines Rückens sie umhüllt, dass alles gut werden wird. Natürlich mit Nannys Hilfe.
    »Darf ich dich mal was fragen, was mir noch nie jemand beantworten konnte?«
    »Nur zu.«
    »Wann wird mein Vater sterben?«
    »Das weiß ich wirklich nicht.«
    »Nanny, warum müssen wir nachts schlafen?«
    »Weil es zu dunkel ist, um etwas anderes zu tun.«
    »Aber Eulen tun doch etwas anderes und Fledermäuse auch. Ich würde gern beim Schlafen an den Füßen hängen wie eine Fledermaus.«
    »Das ist bestimmt eine sehr gute Haltung«, pflichtet Nanny ihr bei, »da fließt einem das Blut in den Kopf.«
    Nachts wacht Leonora auf.
    »Ich sehe ein Kind ohne Kleider, es sitzt in der Esche auf einem Ast und ruft mich.«
    Nanny steht auf und beugt sich aus dem Fenster.
    »Da ist niemand.«
    »Ich
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