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Frau des Windes - Roman

Frau des Windes - Roman

Titel: Frau des Windes - Roman
Autoren: Insel Verlag
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muss hin zu ihm, sonst erfriert es unter der weißen Sonne.«
    »Die Esche ist der größte und schönste Baum der Erde, ihre Wurzeln reichen bis ins Meer, ihre Zweige tragen den Himmel, und Elfen wohnen dort, genau wie in der Eiche und im Weißdorn. Ohne deren Erlaubnis würde die Esche kein Kind heraufklettern lassen«, sagt Nanny und setzt sich zu Leonora auf die Bettkante, während das Mädchen schon wieder einschläft.
    Beim Spaziergang rund um Crookhey Hall passiert es wieder:
    »Ich habe gerade ein Kind gesehen, das hat mir sein Händchen entgegengestreckt, eine ganz kleine Hand, und als ich ihm meine geben wollte, hat es geschrien und sich in Luft aufgelöst.«
    »Ich sehe nichts, Prim.«
    »Nenn mich nicht Prim.«
    »Du bist eben eigen und hochnäsig, sieh mal, wie du den Hals langziehst.«
    »Ich finde es scheußlich, wenn du mich Prim nennst. Schau, da ist es wieder. Gerade hat es sich hinter einem Baum versteckt.«
    Nanny blickt sich suchend um.
    »Man könnte meinen, du lockst die Sidhe an«, sagt sie lächelnd.
    »O ja, ich möchte gern, dass sie mein Leben lang mit mir spielen.«
    »Wenn du liest, Prim, wirst du nie allein sein. Dann sind die Sidhe immer bei dir.«
    In der Nursery malt das Mädchen sie an die Wand, aber ihre Mutter schimpft sie nicht aus, denn sie malt selber. Sie verziert Schachteln, die sie später auf Wohltätigkeitsbasaren verkauft, zeichnet Blumen auf die Deckel und koloriert sie. Leonora malt Pferde, ein Pony nach dem anderen taucht auf den weißen Wänden auf, und Maurie bewundert das Talent ihrer Tochter: »Sehr schön hast du das gemacht.«
    Wenn Nanny sie nach ihrem Lieblingsspielzeug fragt, antwortet Leonora:
    »Tartar. Der hasst meinen Vater.«
    Jedes Mal, wenn man sie ausschimpft, steigt sie aufs Pferd. Will Gerard nicht mit ihr im Garten spielen, reitet sie so lange auf Tartar, bis jemand ins Kinderzimmer kommt. War sie ungezogen und muss zur Strafe auf den Nachtisch verzichten, genießt sie Tartars Schaukeln mehr als den leckersten Schokoladenkuchen.
    Essensdüfte locken sie an, vielleicht weil der Zutritt zur Küche verboten ist. Drinnen brutzeln und schmoren Steaks, Roastbeef und Kidney Pies. Leonora kann sie riechen und ist neugierig auf die Geheimnisse hinter der Tür. Verhutzelt steht die alte, gelbliche Köchin am Herd und wartet darauf, dass die Suppe kocht. Ihre Tochter, die ihr als Küchenmagd zur Hand geht, rät ihr, sich in Gottes Namen hinzulegen, wenn sie sich schlecht fühle, sie könne sie sehr gut ersetzen.
    »Den ganzen Tag beklagst du dich, Mama.«
    »Du hartherziges Ding!«, keift die Köchin. »Ich krümme mich vor Schmerzen, und du hast keinen Funken Mitleid!«
    »Dann häng dich doch auf! Draußen stehen viele Bäume, und Strick ist billig.«
    »Ich hätte dich bei der Geburt ertränken sollen«, faucht die Alte zurück, runzelig vor Zorn.
    Die Welt, die Leonora betreten hat, ist anders als die der Nursery, anders auch als die des Pferdestalls, in den sie immer wieder unbemerkt entwischt und wo keiner ihr verbietet, ohne Sattel zu reiten und das Fohlen zu umarmen, das die Ohren spitzt und sie schnaufend begrüßt. Am stärksten duftet es in der Küche nach Lamm. Die Suppe, die auf dem Herd köchelt, erinnert an Stall, Scheune, Dünger und Abenteuer, an Pferdemähnen, die im Wind wehen, an denen man sich festhalten muss, um nicht herunterzufallen. Düfte voller Entdeckungen, die neben Messern und Gabeln in den Schubladen schlummern. Sie stammen bestimmt aus Mesopotamien.

Die kleine Amazone
    In der Nursery erlebt Leonora noch einmal die Geschichten, die ihr Mary Kavanaugh erzählt hat, genauso wie die von Mary Monica aus Westmeath, ihrer Großmutter mütterlicherseits.
    »Irland ist das smaragdgrüne Quadrat in der großen Steppdecke, die über der Erde liegt«, sagt Nanny.
    »Und wer deckt die Erde zu, damit sie einschlafen kann?«
    »Die Sonne. Die Sonne ist die Bettdecke der Armen. In Irland ist es auch der Nebel.«
    In Westmeath gehen die Carringtons täglich spazieren, dort tauchen am Wegrand Schatten auf: Vögel, Lämmer, ab und an ein Fuchs, vor allem aber Pferde, wie Leonora sie liebt, und Schäfer, die ihre Herde rufen. Die vier Kinder bleiben draußen, bis es zu regnen beginnt. »Das ist Taufwasser«, sagt Nanny, und sie klappen ihre Regenschirme zu, denn wenn der Regen gut ist für Salat und Gemüse, dann macht er Kinder gewiss zu Früchten. Das Gras legt sich hin und bildet ein Laken für sie, Leonora mag es, wenn der Wind es neigt und
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