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Im Netz des Teufels

Im Netz des Teufels

Titel: Im Netz des Teufels
Autoren: Richard Montanari
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Prolog

    IM NORDOSTEN ESTLANDS – MÄRZ 2005

    Elena Keskküla wusste, dass sie – überströmt vom Blut der Vorfahren – um Mitternacht kommen würden. Sie wusste es ebenso wie viele andere Dinge, die sie in ihren fünfzehn Lebensjahren vorhergesehen hatte. Als die Ennustaja ihres Dorfes – eine Wahrsagerin und Mystikerin, deren Deutungen sogar bei Gläubigen aus so fernen Städten wie Tallinn und Sankt Petersburg gefragt waren – war sie immer in der Lage gewesen, einen Blick in die Zukunft zu werfen. Als Siebenjährige sah sie voraus, dass der Kartoffelacker ihrer Familie von Ungeziefer vernichtet wurde. Als Zehnjährige sah sie Jaak Lind, der in seinen geschwärzten Händen ein Bild des heiligen Christophorus hielt, auf einem Feld in Naltschik liegen. Als Zwölfjährige sagte sie die große Flut voraus, die fast ihr ganzes Dorf zerstörte. Sie sah das tote Vieh im Torfmoor versinken und die bunten Sonnenschirme in Schlammbächen treiben. In ihrem kurzen Leben hatte sie die Geduld teuflischer Männer und das Leid mutterloser Kinder gesehen. Sie konnte in die Seelen all ihrer Mitmenschen blicken und erkannte deren Scham, deren Schuld und deren Wünsche. Für Elena Keskküla war die Gegenwart immer Vergangenheit gewesen.
    Was sie nicht vorhergesehen und was den schrecklichen Segen ihres zweiten Gesichts in Frage gestellt hatte, das war die entsetzliche Qual, Leben auf die Welt zu bringen, die tiefen Gefühle, mit denen sie diese Kinder liebte, die sie niemals kennenlernen würde, und die Trauer über solch einen Verlust.
    Und das Blut.
    So viel Blut ...

    Er kam an einem warmen Juliabend vor fast neun Monaten in ihr Bett, in einer Nacht, als der Duft der Gartenraute das Tal erfüllte und die Narwa fast geräuschlos durch ihr Bett floss. Sie hätte sich gerne gewehrt, doch sie wusste, dass es vergebens gewesen wäre. Er war ein stattlicher, kräftiger Mann mit großen Händen, einem schlanken, muskulösen Körper und den Tattoos der schändlichen Vennaskond . Der Drogenboss, Wucherer, Erpresser und Dieb bewegte sich wie ein Gespenst durch die Nacht und herrschte in den Städten und Dörfern des Landkreises Ida-Viru mit einer Rücksichtslosigkeit, die sogar während der russischen Besatzung unbekannt gewesen war.
    Sein Name war Aleksander Savisaar.
    Elena hatte ihn zum ersten Mal gesehen, als sie noch ein Kind war. Er stand dort, wo der graue Wolf immer herumschlich. Damals wusste sie schon, dass er zu ihr kommen und in sie eindringen würde, obwohl sie zu jener Zeit viel zu jung war, um zu verstehen, was das genau bedeutete.
    Am nächsten Morgen stahl er sich so leise, wie er gekommen war, davon. Elena wusste, dass er seinen Samen in ihr zurückgelassen hatte und dass er eines Tages wiederkommen würde, um zu ernten, was er gesät hatte.
    Während der vielen Monate, die folgten, sah Elena seine Augen von früh bis spät, spürte seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht und die grausame Kraft seiner Berührung. In manchen Nächten, wenn sich kein Lüftchen regte, hörte sie die Musik. Die Menschen, die leise über ihn sprachen, sagten, dass Aleksander Savisaar in diesen Nächten immer auf dem Säbel-Hügel saß, der das Dorf überragte, und auf der Flöte spielte, während die baltischen Winde sein langes blondes Haar zerzausten. Es hieß, er würde recht viel von Mussorgski und Tschaikowski verstehen. Elena kannte sich mit diesen Dingen nicht aus. Sie wusste hingegen, dass das Leben in ihr sich oft regte, wenn sein Gesang durchs Tal hallte.
    Es war Mitternacht, als die Babys Ende des Winters geboren wurden, zwei wunderschöne Mädchen und eine Totgeburt, alle umhüllt von einem dünnen Schleier – dem wahren Zeichen des zweiten Gesichts.
    Elena verlor immer wieder das Bewusstsein. In ihren Fieberträumen sah sie einen Mann mit schlohweißem Haar, der seiner Kleidung, seinem Benehmen und seiner Sprache nach Finne sein musste, am Fuß ihres Bettes stehen. Sie sah, dass ihr Vater mit dem Mann verhandelte und sein Geld nahm. Kurz darauf verschwand der Finne mit den Neugeborenen. Beide Kinder waren zum Schutz gegen die Kälte in ein schwarzes wollenes Tekk gewickelt. Auf dem Boden neben dem Kamin ließ er ein drittes Bündel zurück, einen leblosen Haufen blutiger Fetzen. Elena, deren Mutterinstinkte sich gegen das Unglaubliche wehrten, versuchte, aus dem Bett aufzustehen, doch sie konnte sich nicht bewegen. Sie weinte, bis sie keine Tränen mehr hatte. Das furchtbare Wissen, dass ihr diese Babys, die Nachkommen des
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