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Frau des Windes - Roman

Frau des Windes - Roman

Titel: Frau des Windes - Roman
Autoren: Insel Verlag
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Moorhead’s Aromatic Kitchen , die Darstellung einer ländlichen, mit Talavera-Kacheln gefliesten Küche, an deren Wänden Kochtöpfe und Tonkrüge hängen. Die Blasebälge, mit denen die Köchinnen das Feuer schüren, ähneln Papierdrachen, und am Boden drehen sich Mühlen wie tanzende Brummkreisel. Leonora lässt fünf Mexikanerinnen Mais mahlen, Gemüse kleinschneiden, Suppen kosten und auf einer kleinen Kochplatte Chilischoten schmoren. Auf einer großen liegen außerdem eine rote Paprika, ein Kohlkopf, Knoblauchzehen und natürlich mehrere Maiskolben. Eine riesige Gans, weiß wie ein keltischer Gott, betrachtet das Ritual.
    »Damit würdige ich Mary Monica Moorhead. Die mexikanischen Reibmühlen, Steinmörser und Kochplatten gehören seit Jahren zu meinem Leben. Ich weiß, wie man Guacamole zubereitet, meine Soßen und Moles schmecken ausgezeichnet, und mein Reis pappt nie. Gerne würde ich den Erzbischof von Canterbury in grüner Mole verspeisen.«
    Sie mag es nicht, wenn man ihr sagt, sie sei hübsch.
    »Danke«, entgegnet sie, »das einzig Gute am Alter ist, dass es einen weniger empfindlich macht gegenüber den Launen der anderen.«
    In einem Selbstporträt malt sie sich als gesichtslose, in ein Laken gehüllte Vogelscheuche mit Strohhut auf dem Kopf. Auf der nackten Erde lauert ein Rabe auf ihren Sturz. »An mir ist nichts Menschliches mehr«, sagt sie, und wenn man sie fragt, warum, erwidert sie mit Bestimmtheit: »Weil man uns Alte nicht mehr als Menschen betrachtet, wir sind nur noch ein morscher, verwesender Fleischsack, den man im Altenheim abstellt, wenn er unansehnlich wird. Was uns bleibt, sind die Angst und die Scham über unsere Gedächtnislücken, wir sagen immer wieder dasselbe zu denselben Leuten und erinnern uns nur mit Mühe an das, was wir zu erledigen haben, vielleicht weil der Geist stärker nach innen blickt, in Richtung Tod.«
    Erneut verschlingt sie Lewis Carroll.
    »Kein anderes Buch hat mich so stark geprägt.«
    »Ihr habt dieselben Initialen: L. C.«, sagt Chiki lächelnd.
    »Stimmt. Das war allerdings im Gegensatz zu meinem nicht sein richtiger Name. Er hieß eigentlich Dodgson. ›„Ich will doch nicht unter Verrückte gehen“, sagte Alice. „Ach, dagegen lässt sich nichts machen“, antwortete die Katze, „hier sind alle verrückt.“‹«
    »Und was hältst du von deinem Vorfahren Oscar Wilde?«
    »Was uns verbindet, sind unsere Selbstporträts. Freilich hat er sich eine Menge Zeit gelassen mit seiner Selbstzerstörung, ich war praktischer als Dorian Gray, ich habe mich als Gespenst gemalt.«

Baskerville
    Das Erdbeben von 1985 vertreibt sie ein zweites Mal aus der Stadt. In der Calle Chihuahua stürzt das Haus auf der Straßenseite gegenüber ein, die Wohnungen liegen aufeinander wie die Schichten eines Blätterteiggebäcks. In Panik verlassen die Bewohner die Stadt, ihr Viertel, die Colonia Roma, hat es mindestens so schwer erwischt wie die Viertel im Zentrum. Den ganzen 19. September über heulen die Sirenen der Rettungsfahrzeuge. Staub und Rauch hängen in der Luft wie nach der Bombardierung Madrids. Es gibt weder Wasser noch Strom, kein Fernsehen, Radio oder Telefon. Von Mund zu Mund werden die Katastrophenmeldungen weitergegeben: »Das Hotel Regis ist eingestürzt«, »Das Chihuahua-Hochhaus in Tlatelolco liegt in Trümmern«, »Viele Krankenhäuser und Entbindungsheime sind zerstört«, »Es soll über zehntausend Tote geben«.
    Kaum ist die Telefonverbindung wiederhergestellt, rufen Gaby und Pablo in großer Sorge aus den Vereinigten Staaten an.
    »Auf CBS sagen sie, es sei die schlimmste Tragödie in der mexikanischen Geschichte der letzten fünfhundert Jahre.«
    Chiki läuft in die Calle Tabasco, zu Kati. Ihr ist nichts passiert.
    »Die Leute packen alle unglaublich mit an«, erzählt sie. »Die Regierung dagegen kriegt nichts auf die Reihe.«
    »Aber in Sachen Repression ist sie effizient.«
    »In Spanien ist damals mitten in der Tragödie eine richtige Volksorganisation entstanden.«
    »Es ist wohl kaum anzunehmen, dass in Mexiko noch einmal der Sozialismus auflebt, ganz zu schweigen vom Anarchismus. Die Kirche hierzulande ist widerlich. Ich kann mich nicht erinnern, dass die führenden Kirchenmänner jemals eine linke Position eingenommen hätten.«
    »Der Anarchismus ist die Ideologie der ausgebeuteten Klassen, und hier …«
    »Mach dir keine Illusionen, Kati, das Einzige, was wir tun können, ist, die anarchistischen Ideale an unsere Kinder weiterzugeben.
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