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Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing

Titel: Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
Autoren: Jane Casey
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1992
    Ich liege im Garten auf einer kratzigen, karierten Picknickdecke und tue so, als würde ich lesen. Es ist heller Nachmittag, die Sonne brennt mir heiß auf Kopf und Rücken und versengt mir fast die Fußsohlen. Meine Schule ist heute geschlossen, weil die Lehrer Weiterbildung haben. Also kann ich stundenlang draußen sein. Auf der Decke liegen Grasbüschel, die ich von der Wiese gerupft habe. Sie kitzeln auf der bloßen Haut. Mein Kopf wird allmählich schwer, und mir fallen die Augen zu. Die Wörter auf der Buchseite schwirren umher, sosehr ich mich auch abmühe, sie in geordneten Zeilen zu halten. Schließlich gebe ich auf, schiebe das Buch beiseite und lasse den Kopf auf die Arme sinken.
    Vertrocknetes Gras raschelt unter der Decke; die wochenlange Hitze hat es ausgedörrt und gelb gefärbt. In den Rosenblüten summen die Bienen, und irgendwo, nicht weit, dröhnt ein Rasenmäher. In der Küche läuft das Radio, die monotone Frauenstimme wird gelegentlich durch einen Schwall von Musik unterbrochen. Die Worte der Sprecherin sind nicht zu verstehen und verschwimmen ineinander. Ein regelmäßiges Bing-bong-bong kommt von meinem Bruder, der Tennisbälle an die Hauswand schlägt. Schläger, Wand, Boden. Bing-bong-bong. Ich habe ihn schon gefragt, ob ich mitspielen kann. Aber er spielt lieber allein als mit mir. So ist das eben, wenn man vier Jahre jünger und noch dazu ein Mädchen ist.
    Durch meine Armbeuge hindurch beobachte ich einen Marienkäfer, der einen Grashalm hinaufklettert. Ich mag Marienkäfer, in der Schule haben wir gerade ein Projekt über sie gemacht. Ich strecke meinen Finger aus, damit der Käfer draufkrabbeln kann, aber er breitet seine Flügelchen aus und fliegt davon. An meiner Wade kitzelt es– schon wieder eine von diesen fetten schwarzen Fliegen, die diesen Sommer überall sind und mich schon den ganzen Nachmittag nerven. Ich vergrabe den Kopf noch tiefer in meinen Armen und schließe die Augen. Die Decke riecht nach warmer Wolle und herrlichen Sommertagen. Die Sonne brennt, und die Bienen summen mir ein Schlaflied.
    Minuten oder Stunden später höre ich jemanden über die Wiese kommen, das trockene Gras raschelt bei jedem Schritt. Es ist Charlie.
    » Sag Mum, dass ich bald wieder da bin.«
    Die Schritte entfernen sich wieder.
    Ich schaue nicht auf. Ich frage ihn nicht, wohin er geht. Ich schlafe mehr, als dass ich wach bin. Vielleicht träume ich sogar schon.
    Als ich die Augen öffne, spüre ich, dass etwas geschehen ist, aber was? Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe. Die Sonne steht noch immer hoch am Himmel, der Rasenmäher dröhnt nach wie vor, das Radio dudelt, aber irgendetwas fehlt. Es dauert ein Weilchen, bis ich merke, dass der Ball nicht mehr zu hören ist. Der Schläger liegt auf dem Boden, und mein Bruder ist verschwunden.

1
    Ich war nicht losgegangen, weil ich sie suchen wollte, sondern ich hielt es zu Hause einfach nicht aus. Gleich nach der letzten Stunde hatte ich die Schule verlassen, ohne noch einmal ins Lehrerzimmer zu gehen. Ich war direkt zum Parkplatz geeilt, wo mein kleiner, altersschwacher Renault beim ersten Startversuch bereitwillig ansprang– es war das Erste, was heute rundlief.
    Normalerweise verließ ich die Schule nicht unmittelbar nach dem Unterricht. Vielmehr hatte ich mir angewöhnt, noch ein Weilchen in meinem leeren Klassenzimmer sitzen zu bleiben. Manchmal arbeitete ich dann Stundenpläne aus oder korrigierte Hausaufgaben. Oft saß ich auch einfach nur da und schaute aus dem Fenster. Die Stille drückte mir auf die Ohren, als befände ich mich tief unter dem Meeresspiegel. Es gab keinen Anlass, wieder aufzutauchen, denn ich hatte ja keine Kinder, um die ich mich kümmern musste, und keinen Ehemann, mit dem ich verabredet war. Zu Hause erwartete mich nichts als Trübsal, und zwar in jeder Hinsicht.
    Heute aber war es anders. Mir reichte es. Es war ein warmer Tag Anfang Mai, und mein Auto hatte sich in der Nachmittagssonne unangenehm aufgeheizt. Ich kurbelte das Fenster herunter, aber im zähflüssigen Verkehr war ich so langsam, dass ich keinen Windhauch in meinen Haaren spürte. Ich war es nicht gewohnt, mich durch den Stoßverkehr direkt nach Schulschluss zu quälen, und meine Arme schmerzten, weil ich das Lenkrad zu fest umklammert hielt. Ich drehte das Radio an, schaltete es jedoch nach ein paar Sekunden wieder aus. Von der Schule bis nach Hause war es nicht weit– normalerweise dauerte die Fahrt fünfzehn Minuten. Doch an diesem
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