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Fortinbras ist entwischt

Fortinbras ist entwischt

Titel: Fortinbras ist entwischt
Autoren: Eric Malpass
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scheinbar ins Endlose erstreckenden See -abweisend und trostlos. Mrs. Darling ließ Feydeau aufs Bett fallen, nahm den Telefonhörer ab und wählte 999.
    «Wessen Hilfe brauchen Sie?» fragte eine Stimme. «Polizei, Feuerwehr oder Ambulanz?»
    «Alle drei», sagte Mrs. Darling. «Ich stehe unter Wasser.»
    «Meinen Sie die Überschwemmung?»
    «Ja, die meine ich», sagte Mrs. Darling.
    «Geben Sie bitte genau an, von wo aus Sie sprechen.»
    «Von meinem Haus, dem . Für gewöhnlich liegt es ein wenig außerhalb von Shepherds Warning auf dem Wege nach Ingerby. Heute liegt es im süd-südwestlichen Peilwinkel der Kirchturmspitze, ungefähr eine Seemeile von dieser entfernt.»
    «Wir haben Ihre Mitteilung zur Kenntnis genommen», sagte die Stimme. «Legen Sie jetzt bitte den Hörer auf.»
    Mrs. Darling legte den Hörer auf. «Sehr lästig», sagte sie. Sie blickte aus dem Fenster. Dort, noch nicht einmal eine Meile entfernt, lag Shepherds Warning, das Dorf, in dem ihre unschätzbare Perle lebte. Doch zwischen dieser und ihr gurgelten die unfreundlichen Fluten. Nein. Wenn Mrs. Twegg nicht selbst die Initiative ergriff und einen Hubschrauber nahm, würde sie gerade an dem Tag, an dem man ihre Hilfe am dringendsten benötigte, nicht erscheinen. Schuld daran war natürlich nur - und Mrs. Darling sparte bei dem Gedanken nicht mit strenger Selbstkritik - diese laxe moderne Einstellung, die es Dienstboten gestattete, außer Haus zu schlafen.
    Sie ging nach unten. Das Wasser schwappte schon über die erste Treppenstufe. Ihre kostbaren Möbel, ihr gepflegtes Heim standen knöcheltief im brackigen Wasser. Hätte Mrs. Darling dazu geneigt, so wäre sie jetzt in Tränen ausgebrochen. Aber sie neigte nicht dazu. Sie schleuderte nur ihre Pantoffeln in die Gegend, schürzte ihren Rock und watete zum Geräteschuppen. Als sie zurückkam, trug sie in der einen Hand ihre Gummistiefel, in der anderen eine Lattenkiste.
     
    Irgendwo in der Nähe ertönte eine Glockenboje. Das Schiff stampfte langsam durch den feuchten Dunst. In der Ferne klagte ein Nebelhorn. Nun, dachte Rufus Darling unlustig, das wird wohl England sein. Er starrte in die Düsternis hinaus.
    England! Kaltes, von Nebel und Wasser eingeschlossenes England. Er fröstelte. Er war fünfunddreißig und hatte in fast allen Ländern der Erde gelebt, sein Vaterland erfreute sich nicht seiner besonderen Gunst. Er fühlte sich dort einfach nicht zu Hause. In Afrika dagegen - wo er neuerdings aus beruflichen Gründen die meiste Zeit verbrachte -, in Afrika wußte man wenigstens, woran man war. Man kannte seine Feinde: Schlangen, Insekten, Sümpfe, Fieber, Krokodile, Raubtiere. Aber die Zahl seiner Feinde in England war für ihn eine unbekannte Größe: Taxichauffeure, Gepäckträger, Hotelportiers und Tante Helenas Pekinese -dieses verdammte kleine Biest -, von jedem wurde man beobachtet und belauert. Aber das war noch nicht alles. Hatte man zum Beispiel seine Hemden hundert Meilen flußaufwärts am Limpopo vergessen, schickte man einfach einen Boy mit einem Kanu los, um sie zu holen - kein Getue, keine Aufregung, keine Vorwürfe. Oder man trug ganz einfach keine Hemden mehr.
    Aber in England war das ausgeschlossen.
    Von achtern ertönte der verlorene Klang der Glockenboje. Rufus Darling nahm seine Brille ab. Das Gestell war gebrochen und die Bruchstelle mit schwarzem Isolierband umwickelt, das seine langen, knochigen Finger fester preßten, ein untrügliches Zeichen seiner Nervosität! England! Nun, er brauchte ja nicht lange zu bleiben! Ein paar Tage in dem beängstigenden Mahlstrom Londons und ein paar Tage in Shepherds Warning bei seiner einzigen noch lebenden Verwandten: Tante Helena. Dann wieder zurück nach Afrika, zurück zu den ehrlichen, unkomplizierten Raubtieren. Er setzte seine Brille wieder auf, drückte den verbeulten Filzhut tief in die Stirn, knöpfte sich seinen alten Burberry bis zum Hals zu und trat an den Bug des Schiffes, um einen kurzen Blick auf die Küste seines Vaterlands zu werfen.
     
    «Komm, Schatz, iß deine Cornflakes», sagte Mummi.
    Gaylord wandte sich widerstrebend vom Fenster ab. «Es steigt bestimmt immer höher», sagte er.

    «Worauf du dich verlassen kannst», sagte Mummi. «Ist der Kirchturm schon verschwunden?»
    «Noch nicht ganz», gab Gaylord zu. «Aber ich glaube, es wird nicht mehr lange dauern.» Er trat an den Tisch. «Wir sind abgeschnitten, was?» sagte er. Der Gedanke machte ihn so glücklich, daß er zu singen anfing:
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