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Föhn mich nicht zu

Föhn mich nicht zu

Titel: Föhn mich nicht zu
Autoren: Stephan Serin
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Gainsbourg
Je suis venu te dir’que je m’en vais et tes larmes n’y pourront rien changer
23 zu singen anfing, amüsierten sich Nesrin und Nedime über die Hässlichkeit des Franzosen, während Ahmet feststellte, dass die Frauen alle kaum
     Brust hatten. Bei
tu t’souviens des jours anciens et tu pleures tu suffoques,
|246|
tu blémis à présent qu’a sonné l’heure
24 bemerkte Hannah, die Leistungsstärkste der Gruppe, dass sie nichts verstehe, weil der Sänger so unmöglich nuschle, und Paul fand das Lied schwul.
     Worauf alle lachen mussten, außer Nesrin und Nedime, die sich mittlerweile mit Ahmet stritten, darüber, dass der bei Frauen
     nur auf die Brüste achten würde. Sie beschimpften ihn als hässlich, was ihn sehr aufregte, denn er investierte viel Zeit im
     Fitnessstudio und vor dem Spiegel und gab obendrein viel Geld für teure Markenklamotten aus.
    Ich ließ das Video dennoch bis zum Ende durchlaufen. Aber bei der Auswertung bestätigte sich der Eindruck. Niemand hatte etwas
     aufgeschrieben. Nur Ahmet meldete sich:
«Nous jouez maintenant?» 25
Obwohl eigentlich die Mehrzahl der Schüler die Frage nicht hätte verstehen dürfen, da sie nur rudimentär Französisch konnten, stieß dieser Vorschlag auf einhellige Zustimmung.
    Ich verzichtete auf einen zweiten Anlauf. Und auch darauf, die Schüler ausgehend von dem Vers
Je suis venu te dire que je m’en vais
einen eigenen Liedtext verfassen zu lassen, um diesen dann mit den Zeilen von Gainsbourg zu vergleichen. Ich wischte die Tafel
     – und wir spielten
Hangman
. Enttäuscht übernahm ich die Rolle des Spielleiters. Ich hatte die gleiche Erfahrung gemacht wie damals als Fremdsprachenassistent
     in Frankreich, als ich in mehreren Kursen mit Tocotronic auf völlige Ignoranz gestoßen war. Beim Song «Samstag ist Selbstmord»,
     in dem die Band den Ausgehzwang am Wochenende beklagte, hatte ein Schüler die abschätzige Bemerkung gemacht:
« Ils savent pas faire la fête
– Sie haben es nicht drauf, sich zu amüsieren.» Nur war die Enttäuschung diesmal vielleicht sogar noch größer. Denn schließlich
     kannten |247| mich meine Elftklässler länger. Schließlich hatte ich die Stunden besser geplant. Es waren meine beiden letzten. Und die Zeilen
     von Gainsbourg waren ja auch irgendwie meine Abschiedsworte an die Klasse, an meine Lieblingsklasse. Ohne ihnen diesen Umstand
     pathetisch in Erinnerung zu rufen, ließ ich sie mit einem knappen «Es hat Spaß gemacht mit euch!» dreißig Minuten früher gehen.
     Sie verließen auf sehr unsentimentale Weise den Raum, noch bevor ich bis drei zählen konnte. Selbst die schlanke und hübsche
     Nedime mit dem kastanienbraunen langen Haar verschwand, ohne sich zu mir umzudrehen. Nur die zierliche Sophie brauchte mal
     wieder länger für das Packen ihrer Sachen. Immerhin war sie zu meinen letzten beiden Stunden, überhaupt erschienen. Sonst
     hatte sie sich während des Schuljahrs nicht oft blicken lassen, im Einvernehmen mit ihrer alleinerziehenden Mutter, die der
     Meinung war, Sophie habe das Recht, sich zu finden. Selbst wenn Sophie mal gekommen war, hatte sie kaum auf sich aufmerksam
     gemacht und die Stunden still und unbeteiligt in der letzten Reihe am Fenster zugebracht. Zu ihrer unscheinbaren Art passten
     ihre blasse Gesichtsfarbe und die durchweg schwarzen Jeans, die schwarzen Kapuzensweaters und schwarzen Chucks. Selbst die
     Haare hatte sie schwarz gefärbt. Das einzig Auffällige an ihr waren das Piercing am rechten Flügel ihrer Stupsnase und der
     Mando-Diao-Button an ihrer Federtasche.
    Das Warten auf sie war mir ein bisschen unangenehm. Denn ich wollte mit meiner Desillusionierung darüber, dass mein Abschied
     von Nedime und den anderen so gar nicht gewürdigt worden war, endlich allein sein. Doch dann sprach Sophie die schönsten zwei
     Sätze, die jemals jemand zu mir während der zwei Jahre Referendariat gesagt hatte: «Herr Serin, können Sie noch mal den Namen
     von dem Sänger und dem Lied ranschreiben? Ich würd mir das gerne runterladen.»

|248| Glossar
    Activité avant l’écoute (Übung vor dem Hören): Im Französischunterricht jede Übung, die dem Hören eines Liedes oder eines Gesprächs vorgeschaltet ist und die den Zweck
     hat, die Schüler thematisch einzustellen, ihr Interesse zu wecken und ihre Aufmerksamkeit auf den Hörtext zu fokussieren.
     Etwa: Die Schüler ausgehend von einem Songtitel Hypothesen zum Thema formulieren lassen oder ein Wortfeld zum im Hörtext
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