Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flutgrab

Flutgrab

Titel: Flutgrab
Autoren: Meister Derek
Vom Netzwerk:
drücken, und dann wird nichts mehr sein.
    Doch die Flut kam schleichend. Finger um Finger kroch sie in die Glocke, Elle um Elle. Er sah nur Finsternis, spürte aber die tausend kalten Hände an seinen Füßen.
    Habe ich die Augen geschlossen, oder ist es wirklich so dunkel?
    Ich sitze auf meinem Schreibtisch, hocke da wie ein Rabe, und das silbrige Nass umspült meine Zehen.
    Lieber Gott, lass es schnell gehen.
    Es ist das Wasser. Nicht der Schnee, der mich in die Hölle bringt.
    Es ist so dunkel.
    Er schrie. Unfähig zu denken, sich zu bewegen. Die Welt war Dunkelheit, ein Gefängnis aus Holz, mit Türen aus Wasser.
    Rungholt schrie. Er schrie.
    Das Wasser hatte ihn wieder.
    Bist zweiunddreißig Jahre davongerannt, Rungholt.
    Und nun schluckt dich das zahnlose Wassermaul.
    Es gab nur einen Weg zu entkommen.
    Rungholt musste vom Brett rutschen. Einen Weg . Hinab ins Wasser.
    Ich kann nicht. Ich kann da nicht rein. Mein Gott, ich kann doch nicht ins Wasser gehen. Ich kann doch nicht … tauchen !
    Lass dich fallen.
    Er holte Luft.
    Das Wasser ist schon bei deinen Knien. Du musst gehen.
    Er zwang sich, zwang sich, endlich das Brett loszulassen. So fest er konnte, schloss er die Augen. Für ein Gebet war keine Zeit. Ich liebe dich, Alheyd. Ich habe das nicht gewollt.
    Seine Hand öffnete sich.
    Geh.
    Geh ins Wasser.
    »Vater unsir …«
    Los.
    Ich kann nicht.
    Geh.
    »… giheiliget werde din namo …«
    Rungholt rutschte am Brett entlang, glitt ins kalte Schwarz. Das Wasser umschloss ihn. Es nahm ihn auf wie einen alten Freund. Es wickelte ihn in kalte Laken und liebkoste seine heißen Wangen. Es benetzte seine Lippen und küsste seine Lider.
    Wasser.
    Rungholt schlug die Augen auf. Durchs Wasser schwebend, wie kein Vogel jemals gleitet, driftete er dahin und sah seine Stadt.
    Rungholt, dachte er. Da ist Rungholt. Oder ist es das Dorf der Víkingr? Nein, das ist … Das ist die Goldene Stadt der Edomsharde. Ja.
    Da war der Hafen, vor dem die Koggen zur Ebbe mit Fuhrwerken entladen wurden, die gedrungenen Reethäuser, die sich mit ihrem Pfostenwerk gegen den ewigen Wind stemmten und deren Giebel bunt bemalt waren. Wimpel flatterten, und überall glitzerte das Gold, als wäre Rungholt in eine Schatztruhe gestürzt. Verwirrt rieb er sich die Augen.
    Er träumte. Er träumte, wieder unter Wasser zu sein. So musste es sein. Wahrscheinlich war er in seiner Dornse und träumte. Schwerelos glitt er dahin. Er atmete Wasser ein, atmete wie ein Fisch ein und aus und bekam die Augen vor Staunen nicht zu. Seine Stadt. Seine Kindheit.
    Schwester, Mutter, Vater.
    »Ihr seid alle hier?«
    Mein Gott, wie schön. Er meinte sie vor seinem Reethaus zu sehen, am Brunnen. Sie winkten. Rungholt fuhr herum, weil er glaubte, einen Blick gespürt zu haben.
    Am schwarzen Grund leuchtete eine Gestalt.
    Irena.
    Dort im Wasser. Endlich hinabgesunken auf den Grund des Sees. Nicht mehr unter dem Eis, nicht mehr gefroren. Rosig gar ihre Wangen.
    Irena?, hörte er seine Stimme.
    Er konnte sprechen. Er sprach unter Wasser.
    Irena!
    Er war ihr jetzt ganz nah. Ihr überlanges Kleid umwehte ihn, ihre schlanken Arme streckten sich nach ihm aus. Arme aus Licht strichen über seine Wangen. Diese Arme. Irenas Arme aus Licht.
    Irena?
    Sie öffnete die Augen. Sie öffnete die Augen. Und ihr Blick war herzlich.
    Rungholt?, bildeten stumm ihre Lippen. Und sie lächelte.
    Irena lächelte.
    Es war das Letzte, was er sah. Dieses Lächeln. Irenas Lächeln.
    Das war mein Leben wert.
    Ich habe dich geliebt.
    Ich werde dich immer im Herzen tragen, sagte er, und sein Herz blieb stehen.
    Das Wasser wurde sein Grab.
    Rungholt.

51
    Funken. Nein, Sterne. Glitzernd tauchten sie auf. Mit einem Mal erhellten wärmende Sonnenstrahlen das Wassergrab. Die Dunkelheit wurde von rotem Licht durchdrungen. Männerstimmen. Vom Grund. Kaum hörbar. Die Freunde seines Vaters? Die Händler Rungholts?
    Er versuchte zu atmen, hustete bloß, hatte schlagartig das Gefühl sich zu verschlucken, zu ersticken. Er bäumte sich auf.
    Jemand schlug ihn. Jemand hatte sich auf seinen Bauch gesetzt und versuchte, ihm den Atem zu rauben und …
    Rungholt spuckte Wasser, öffnete flatternd die Lider. Das Licht. Es war Feuer. Hinter ihm stand der See in Flammen. Haushohes Feuer leckte in den kalt-grauen Tag. Die Hütten brannten, und der Kran stand lichterloh in Flammen. Eine gigantische Fackel. Sie wärmte Rungholt mit ihrem orange-roten Glanz. Er spürte unter sich Schilf.
    Morast, dachte er, dreckige
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher