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Last Exit

Last Exit

Titel: Last Exit
Autoren: Olen Steinhauer
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HENRY GRAYS LETZTER FLUG
MONTAG, 6 . AUGUST BIS DIENSTAG, 11. DEZEMBER 2007

    1
    Als DJ Jazzy-G das Intro von »Just Like Heaven« auflegte, dieser Cure-Hymne seiner Jugend, genoss Henry Gray einen Augenblick reiner Euphorie. War ihm das im Ausland schon jemals passiert? In den zehn Jahren in Ungarn hatte er bereits Ahnungen davon empfunden, aber erst in diesem Moment – kurz nach zwei Uhr morgens beim Tanzen im Club ChaChaCha auf der Margit-Insel, als er Zsuzsas sanfte Zunge auf seinem schweißnassen Ohrläppchen spürte –, erst jetzt wurden ihm die ganze Wucht und das Glück seiner herrlichen Existenz in Europa bewusst.
    Eighties-Abend im ChaChaCha. Jazzy-G las seine Gedanken. Zsuzsa saugte an seiner Zunge.
    Trotz der Frustrationen und Enttäuschungen während seines Aufenthalts in dieser mitteleuropäischen Metropole wurde er in Zsuzsanna Papps Armen auf einmal von der Liebe zu dieser Stadt und den kerts gepackt – den Biergärten, die die Ungarn öffneten, sobald der lange, dunkle Winter überstanden war.
    Hier im Club legten sie die Kleider ab und tranken, tanzten und arbeiteten sich durch die Stadien des Vorspiels, bis selbst ein Außenseiter wie Henry den Eindruck hatte, dazuzugehören.
    Trotzdem hätten all diese Sinnesfreuden nicht ausgereicht, um Henry Gray ein derartiges Hochgefühl zu bescheren.
Es war die Story, die ihm der unberechenbare ungarische Postdienst vor zwölf Stunden zugestellt hatte. Die größte Story seiner noch jungen Karriere.
    Bisher beruhte sein Erfolg als Journalist allein auf dem Bericht über den Luftwaffenstützpunkt Taszár, wo die US Army in einer abgelegenen ländlichen Gegend Ungarns heimlich die Free Iraqi Forces ausgebildet hatte, als der endlose Golfkrieg noch am Anfang stand. Das war vor vier Jahren gewesen, und in der Zwischenzeit war Henry Grays Karriere ins Stocken geraten. Die geheimen Verhörzentren der CIA in Rumänien und der Slowakei hatte er verschlafen. Sechs Monate hatte er mit den ethnischen Unruhen an der serbisch-ungarischen Grenze vergeudet, nur um festzustellen, dass die amerikanischen Zeitungen desinteressiert abwinkten. Und letztes Jahr, als die Washington Post enthüllte, dass die CIA Taliban-Gefangene zur Ernte von afghanischem Heroin einsetzte, das dann nach Europa verkauft wurde, steckte Henry Gray gerade wieder in einer schwarzen Phase, in der er nach Wodka und Unicum stinkend aufwachte und nicht wusste, was in der vergangenen Woche vorgefallen war.
    Doch jetzt hatte ihm die ungarische Post die Rettung gebracht, etwas, das keine Zeitung ignorieren konnte. Das Schreiben war von einer Anwaltskanzlei in Manhattan mit dem merkwürdigen Namen Berg & DeBurgh abgeschickt worden und stammte von einem ihrer Mandanten: Thomas L. Grainger, einem ehemaligen Angestellten der Central Intelligence Agency. Für Henry Gray war das Ganze ein Neuanfang.
    Wie um das zu unterstreichen, schien Zsuzsa, die ihn so lang auf Abstand gehalten hatte, endlich seinem Werben nachzugeben, nachdem er ihr den Brief vorgelesen und ihr desssen Bedeutung für seine Karriere erklärt hatte.
Sie war selbst Journalistin und hatte ihm ihre Hilfe versprochen. Zwischen Küssen hatte sie ihm vorgeschlagen, dass sie wie Woodward und Bernstein in der Watergateaffäre zusammenarbeiten sollten, und er hatte ihr zugestimmt.
    War es die Gier, die Zsuzsa schwach werden ließ? In diesem Augenblick, der mindestens noch einige Stunden dauern würde, spielte es nicht die geringste Rolle.
    »Liebst du mich?«, flüsterte sie.
    Er nahm ihr warmes Gesicht in die Hände. »Was glaubst du?«
    Sie lachte. »Ich glaube, du liebst mich.«
    »Und du?«
    »Ich hab dich immer gemocht, Henry. Eines Tages könnte ich dich sogar lieben.«
    Zuerst hatte sich Henry nicht an den Namen Thomas Grainger erinnert, doch beim zweiten Lesen dämmerte es ihm allmählich: Sie waren sich nur einmal begegnet, als Gray Hinweisen zu seiner Story über Taszár nachging. Auf der Andrássy út hatte plötzlich ein Wagen neben ihm gehalten, das hintere Fenster fuhr nach unten, und ein alter Mann bat ihn um ein Gespräch. In einem Café versuchte Thomas Grainger dann mit einer Mischung aus patriotischen Floskeln und nackten Drohungen, Gray dazu zu bewegen, seinen Bericht erst in einer Woche abzugeben. Gray weigerte sich und fand bei seiner Rückkehr eine demolierte Wohnung vor.
     
    11. Juli 2007
    Sehr geehrter Mr. Gray,
    es überrascht Sie wahrscheinlich, einen Brief von jemandem zu erhalten, mit dem Sie in der Vergangenheit wegen
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