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Flut: Roman (German Edition)

Flut: Roman (German Edition)

Titel: Flut: Roman (German Edition)
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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es ein zweites Kind gab. Einen Zwilling, der seinem Geschwister nach wenigen Sekunden gefolgt war. Nach wie vielen Sekunden?, dachte er verzweifelt? Mehr als fünf? Und welches der beiden Kinder war das Erstgeborene? »Großer Gott!«, murmelte er. »Was sollen wir jetzt tun?«
    »Das weiß ich nicht«, antwortete Pjotr, der sich aus irgendeinem Grund angesprochen fühlte. »Aber ich weiß, was ich jetzt tue. Der Hubschrauber landet in diesem Augenblick.«
    Es gab nichts zu entscheiden. Es gab nicht einmal mehr eine Alternative. »Wir nehmen beide mit«, sagte Torben. »Helfen Sie mir!«
    Pjotr rührte sich nicht, aber seine Augen wurden schmal. »Sie haben gesagt, das Erstgeborene …«
    »Ich weiß, was ich gesagt habe, verdammt noch mal!«, fiel ihm Torben ins Wort. »Aber es sind zwei. Und die Einzige, die wusste, welches das Erstgeborene war, war sie!« Er deutete aufgebracht auf die Hebamme. »Aber Sie mussten sie ja erschießen. Sie elender Narr! Und jetzt helfen Sie mir gefälligst. Ich brauche eine Schere und etwas zum Abbinden!«
    Pjotr starrte ihn noch eine Sekunde lang aus zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen an, doch dann steckte er, fast zu Torbens Überraschung, die Waffe ein und trat neben ihn. Torben fühlte sich hilflos. Die Ereignisse hatten ihn einfach überrollt. So schnell und warnungslos, dass er noch nicht einmal wirklich begriffen hatte, was überhaupt geschehen war. Geschweige denn, was er tun sollte. Selbst der rein praktische Teil seines Vorhabens erschien ihm im ersten Moment unlösbar. Pjotr raffte Schere, Verbandszeug und eine Nierenschale zusammen und ließ sich damit neben ihm in die Hocke sinken, aber Torben war einfach nicht fähig, auch nur einen Finger zu rühren. Er war gelähmt. Er sah die verchromte Schale nur an, als handele es sich um ein Artefakt aus einer längst untergegangenen Kultur, über deren Verwendungszweck er nur Mutmaßungen anstellen konnte. Und nicht einmal das. Er konnte sich nicht bewegen, er konnte nicht denken.
    Pjotr starrte ihn eine halbe Sekunde lang wütend an, dann fluchte er leise in seiner Muttersprache, stieß ihn grob zur Seite und ließ sich vollends auf die Knie herabsinken. Torben sah mit einem Gefühl wachsender Verblüffung zu, wie der Russe die beiden Säuglinge abnabelte und mit unerwartetem Geschick verband. Keines der beiden Kinder gab auch nur einen Laut von sich. Pjotrs Hände, von denen er geglaubt hatte, dass sie nur töten und Schmerzen zufügen konnten, gingen mit großem Geschick zu Werke. Die beiden Neugeborenen ließen die Prozedur klaglos über sich ergehen, folgten aber jeder Bewegung Pjotrs mit aufmerksamen, sehr wachen Blicken.
    Schließlich stand der Russe auf, nahm zwei grüne OP-Tücher aus dem Regal und wickelte die Kinder darin ein, auf eine Weise, die Torben an russische Babypuppen erinnerte. »Jetzt aber raus hier!«, sagte er. »Nehmen Sie die Kinder. Und das hier.« Er bückte sich, nahm Mikails Waffe und hielt sie Torben mit dem Griff voran hin.
    Torben starrte die großkalibrige Pistole angeekelt an und machte keine Bewegung, um danach zu greifen, bis Pjotr ungeduldig gestikulierte. Widerwillig nahm er die Waffe und ließ sie in die Jackentasche gleiten. Er konnte spüren, wie ihr Gewicht die Jacke auf der rechten Seite nach unten zog.
    Pjotr zerrte ihn unsanft auf die Füße, drückte ihm die beiden Säuglinge in die Arme und versetzte ihm einen Stoß, der ihn quer durch den Raum, die Tür und noch einen Schritt weit auf den Gang hinaus stolpern ließ. Das Krachen und Knattern von draußen wurde lauter. Musikfetzen, Gelächter, allgemeiner Lärm, wieder eine ganze Salve knatternder Böllerschüsse. Das Silvesterfeuerwerk war noch in vollem Gange und Torben begriff zweierlei: Sie waren kaum länger als eine Minute im Kreißsaal gewesen, und die Schüsse und Schreie waren vermutlich gar nicht gehört worden. Hier draußen im Gang war alles ruhig. Zu ruhig.
    Torben drehte sich nach links und sah, dass der Krankenpfleger reglos ausgestreckt auf dem Boden unter dem Fenster lag. Er betete, dass er nur bewusstlos war und nicht tot. Auf dem Boden war jedenfalls kein Blut. Und was seine Gebete anging: Sie würden sowieso nicht mehr erhört werden.
    Pjotr machte eine unwillige Geste in die andere Richtung, zur Tür hin. Es war eindeutig ein Befehl, den eine unausgesprochene Drohung begleitete. Sie hatten die Rollen getauscht. Pjotr hatte das Kommando übernommen, was in der augenblicklichen Situation eigentlich in Ordnung
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