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Flut: Roman (German Edition)

Flut: Roman (German Edition)

Titel: Flut: Roman (German Edition)
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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sah ihn an und es erkannte ihn, und es wusste, warum er gekommen war!
    Er konnte es nicht tun. Es war falsch. Ganz egal, was dieses Kind war, ganz egal, was geschehen würde, wenn es am Leben blieb und heranwuchs: Er hatte nicht das Recht, es zu töten. Kein Mensch hatte das Recht, ein Leben auszulöschen, ganz gleich, was auf dem Spiel stand.
    Waren das wirklich seine Gedanken, fragte er sich. War es Gottes Stimme, die er hörte, oder die des Satans, der in seinen Gedanken flüsterte, weil er kurz davor stand, seine Pläne zu durchkreuzen?
    »Verdammt noch mal, worauf warten Sie?«, fragte Pjotr ungeduldig. »Wir müssen weg hier!«
    Torben ließ sich langsam auf die Knie sinken. Seine Hand umklammerte das Messer so fest, dass es wehtat, und die Blicke des Kindes folgten jeder seiner Bewegungen sehr aufmerksam, aber auch vollkommen ohne Furcht, fast als wisse es genau, dass er ihm nichts zuleide tun konnte. Und das konnte er auch nicht. Er wollte den Arm heben und die heilige Klinge ihrer Jahrtausende alten Bestimmung zuführen, aber seine Muskeln verweigerten ihm den Dienst. In ihm war nichts als Leere, die gleichsam alle Kraft aus seinem Körper zu saugen schien, so dass er nun tatsächlich nicht mehr als eine leere, atmende Hülle war. Er spürte, dass Tränen über sein Gesicht liefen, aber er verstand nicht genau, woher sie kamen, denn er empfand nichts. Und wenn er etwas spürte, so war zwischen ihm und seinen Empfindungen eine Mauer, die sein bewusstes Denken nicht zu durchdringen vermochte.
    »Verdammt!«, sagte Pjotr.
    »Ich … kann das nicht«, murmelte Torben stockend. Die vier Wörter kosteten ihn beinahe mehr Kraft, als er aufzubringen imstande war.
    Pjotr lachte böse. »Und ich werde es nicht tun«, sagte er. »Tun Sie es oder tun Sie es nicht. Aber ich bin in dreißig Sekunden hier weg. Aber vorher werde ich Sie erschießen. Ich töte keine Kinder.«
    Als ob ihn diese Drohung schrecken könnte. Sein Leben war so oder so vorbei. Wenn es eine Hölle gab, dann war er bereits darin. Und er hatte Pjotr auf diese Weise auch nicht auffordern wollen, es für ihn zu tun. Es spielte keine Rolle, wessen Hand das Messer führte. Es wäre so oder so die seine gewesen.
    Er streckte die Hand nach dem Gesicht des Kindes aus und berührte seine Stirn. Nur ein Hauch, und vielleicht nicht einmal das. Mit der anderen hob er den Dolch und setzte die Spitze direkt über dem winzigen Herz des Neugeborenen an. Es würde nichts spüren, allenfalls die Andeutung eines Schmerzes, vermutlich nicht einmal das. Sein Leben würde enden, noch bevor es wirklich begonnen hatte, und dieser eine, schmerzlose Tod würde Milliarden und Milliarden anderer Leben retten. Eine ganze Welt voller Leben. Er musste es nicht einmal wirklich tun. Selbst die bewusste Bewegung, dem Kind den Dolch ins Herz zu stoßen, blieb ihm erspart. Es reichte, wenn er sich vorbeugte und das Messer festhielt. Sein Körpergewicht und die Naturgesetze würden den Rest erledigen. Er musste es tun. Er wollte es nicht und er durfte es nicht, aber er musste. Er spürte den anklagenden Blick von Millionen ungeborener Seelen auf sich lasten. Ihre unausgesprochene Frage: Warum hast du uns verdammt? Er hatte keine Wahl. Seine Seele war verloren – so oder so. Aber es stand so unendlich viel auf dem Spiel! Sollte sein Opfer umsonst gewesen sein?
    Als er es tun wollte, hörte er ein leises Wimmern. Doch es war nicht das Kind unter ihm. Das Neugeborene sah ihn weiter ruhig und aus diesen beunruhigend klaren Augen an, aber es gab keinen Laut von sich. Doch das Wimmern war da, und es war eindeutig die Stimme eines Kindes!
    Torben zog den Dolch zurück, sah sich irritiert und erschrocken um und streckte schließlich die Hand nach der Hebamme aus. Sie war eine große, kräftige Frau und er war fast überrascht, wie schwer es ihm fiel, sie auf die Seite zu rollen.
    Unter ihrem Körper lag ein zweites Kind.
    Es war vielleicht eine Minute alt, noch nicht abgenabelt und mit Blut und schwarzem Schleim bedeckt, und es hatte die gleichen beunruhigenden Augen wie das Mädchen. Torben fühlte ein eisiges, lähmendes Entsetzen in sich aufsteigen. Es waren zwei Kinder! Zwei!
    »Was ist los?«, fragte Pjotr. »Worauf zum Teufel warten Sie …? Oh, verdammt!«
    Torben starrte abwechselnd und mit immer größer werdendem Entsetzen die beiden Neugeborenen an und plötzlich verstand er die ungläubigen.Blicke und den beinahe panischen Ausdruck im Gesicht der Hebamme. Sie hatte gesehen, dass
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