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Flut: Roman (German Edition)

Flut: Roman (German Edition)

Titel: Flut: Roman (German Edition)
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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getroffen haben musste.
    Zitternd richtete sich Torben auf, sah auf die Uhr und blickte sich gleichzeitig um. Fünfzehn Sekunden nach Mitternacht. Zwanzig Sekunden, seit sie hereingekommen waren. In dieser Zeit waren drei Menschen getötet worden. Torben sah nach links und auf Mikail hinab und korrigierte sich in Gedanken: vier; und aus dem sterilen Raum war ein qualmender Trümmerhaufen geworden. Und das Allerschlimmste stand ihm noch bevor.
    »Worauf warten Sie?«, fragte Pjotr. Er zog seelenruhig das Magazin aus der Uzi, steckte es ein und schob ein neues in die Waffe. Er hatte nicht etwa aufgehört zu schießen, weil ihm klar geworden war, dass er aus Versehen einen seiner eigenen Männer getroffen hatte, dachte Torben schaudernd, ihm war schlichtweg die Munition ausgegangen. Er war nicht einmal mehr sicher, dass er Mikail tatsächlich aus Versehen getroffen hatte. Aber der Russe hatte Recht. Worauf wartete er? Das Unvermeidbare wurde nicht weniger schlimm, wenn er es hinauszögerte.
    Er bückte sich und hob den Dolch auf. Als sich seine Finger um den Griff der antiken Waffe schlossen, verletzte er sich an den scharfkantigen Glassplittern, die den Boden bedeckten. Blut aus einer zweiten Schnittwunde mischte sich mit dem aus der ersten, aber er spürte den Schmerz nicht einmal. Nur auf der bronzefarbenen Klinge schimmerte plötzlich helles Rot und es war die düstere Symbolik dieses Anblicks, die Torben für eine kostbare Sekunde wie versteinert dastehen und das Messer anstarren ließ. Er wartete darauf, dass er Entsetzen verspürte, Schrecken oder wenigstens Schuldbewusstsein, aber in ihm war nichts anderes als eine schreckliche, tiefe Leere. Vielleicht beschützte ihn etwas, damit er die Kraft fand, seine Aufgabe zu beenden, aber vielleicht war auch das genaue Gegenteil der Fall. Torben drängte auch diesen Gedanken zurück und trat an den Tisch heran. Die Frau war tot. Ihr Gesicht war von den Schnitten und tiefen Kratzern von der zerborstenen OP-Lampe übersät, aber er glaubte nicht, dass ihr noch Zeit geblieben war, um den Schmerz zu spüren, vielleicht nicht einmal, um wirklich zu begreifen, was mit ihr geschah. Eine verirrte Kugel hatte ihr Herz getroffen und ihr einen schnellen, gnädigen Tod gewährt. Ihre Augen standen noch offen. Torben streckte die Hand aus, zögerte noch einmal, dann schloss er ihre Lider und machte mit dem Daumen das Kreuzzeichen auf ihre Stirn. Er wartete darauf, dass etwas geschah, dass ihn ein Blitz göttlicher Verdammnis traf oder sich der Boden unter ihm auftat, um ihn im Feuer der Hölle zu verschlingen, aber der Himmel schwieg, und wie es aussah, wollte ihn die Hölle nicht haben. Jedenfalls noch nicht.
    Er ergriff den Dolch fester und ging um den Tisch herum. Seine Lippen bewegten sich wie im lautlosen Gebet, aber auch seine Gedanken blieben stumm. Die Worte, die ihm ein Leben lang so viel Kraft und Trost gespendet hatten, waren nicht mehr da und sie würden auch nicht wiederkommen. Es gab Türen, die man nur einmal hinter sich schließen konnte, und Wege, die nur in eine Richtung führten. Und er befand sich auf einem solchen Weg. Vielleicht schon länger, als ihm bisher klar gewesen war.
    Pjotr öffnete die Tür einen Spaltbreit, sah hinaus und sagte: »Beeilen Sie sich. Wir müssen weg.«
    Torben trat mit einem großen Schritt über die Leiche des Arztes hinweg, den Pjotr erschossen hatte, umkreiste den Tisch vollends und blieb wieder stehen. Er begann zu zittern. Seine Lippen hörten auf sich zu bewegen. Vielleicht schlug auch sein Herz in diesem Moment nicht.
    Auch die Hebamme war tot. Torben erinnerte sich genau, dass Pjotr sie mit seiner blindlings abgefeuerten Salve nicht getroffen hatte, aber nun hatte sich ein rasch größer werdender hellroter Fleck auf ihrem weißen Kittel gebildet. Das Kind, das sie fünf Sekunden vor Mitternacht auf die Welt geholt hatte, lag auf dem Boden neben ihr. Noch nicht abgenabelt und mit Blut und Mutterpech bedeckt, aber es weinte nicht und es war wach und sah ihn aus großen, beunruhigend wissenden Augen an. Torben wusste, dass Neugeborene nichts sehen konnten. Nicht wirklich. Ihre Welt bestand aus Schatten und verschwommenen Umrissen, aus Gerüchen und Lauten und dem Gefühl des Verlustes jener halbtelepathischen Verbindung zum Mutterleib, aus dem sie so brutal herausgerissen worden waren. Aber das galt vielleicht für alle anderen Kinder. Nicht für dieses.
    Das Mädchen sah ihn an. Es blickte nicht einfach nur in seine Richtung. Es
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