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Flut: Roman (German Edition)

Flut: Roman (German Edition)

Titel: Flut: Roman (German Edition)
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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waren sie neu für mich.
    Ich war den Geruch von Rauch und Nebel gewöhnt, in der Stadt durchzog er selbst der Park, und was dort blühte, hatte keine Chance, zu gedeihen: Bald war es grau vom Ruß. Hollyhock hingegen musste von Tausenden Blumen und Büschen umgeben sein, und ich konnte nur vermuten, dass Flieder darunter war und vielleicht auch die eine oder andere Malve, der das Haus den Namen verdankte, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob Malven um diese Jahreszeit schon blühten. In London taten sie es nicht, aber hier gab es mehr Sonne und bestimmt einen großartigen Gärtner … Die Welt verschwamm vor meinen Augen, und alles, was ich sah, war ein Strudel von Farbe, Rosa in allen Schattierungen der Dämmerung, und es war schön.
    Ich zwinkerte. Mein Blick klärte sich, und jetzt nahm ich endlich auch das Haus wahr. Es übertraf alles, womit ich gerechnet hatte. Das Haupthaus war ein mächtiger Würfel mit hohen Säulen und einem klassizistischen Giebel, den ich dank meiner umfassenden Bildung durch dem Almanach von 1903 und heimlicher Besuche in der Leihbücherei als höchstwahrscheinlich Regency identifizierte. Links und rechts gab es Anbauten, von denen ich nicht sagen konnte, ob sie so alt waren wie der Rest. Es war eine Sache, klassizistische Giebel zu erkennen, aber der Almanach ersetzte keine höhere Schulbildung. Ich konnte nicht sehen, wie viele Kamine Hollyhock hatten. Wenn wir früher spazieren gehen durften, hatten wir Mädchen immer das Kaminspiel gespielt: Gewonnen hatte diejenige, die das Gebäude mit den meisten Kaminen fand. Aber ich stand zu nah am Haus, um irgendetwas vom Dach sehen zu können, geschweige denn von den Kaminen, und so blieb mir nur die Hoffnung, dass es irgendeine Form von Heizung gab, am besten auch in meinem Zimmer. Man durfte ja noch träumen, irgendwie.
    In jedem Fall konnte ich sagen, dass das Haus alt war, alt genug, um den Zahn der Zeit mehr als einmal zu spüren bekommen zu haben. Vielleicht war es etwas schäbig, wenn man das über so ein stolzes Herrenhaus sagen durfte, aber es war wenigstens überhaupt nicht düster. Das Mauerwerk war von einem hellen Grau, das gut zu den Stockrosen passte. Man konnte es nicht wirklich freundlich nennen – das war für Grau auch schwer möglich –, aber es hatte so etwas Schwebendes. Wenn man an St. Margaret’s gewöhnt war, an Backstein, der mit den Jahren von all dem Ruß in der Luft fast schwarz geworden war, fühlte es sich an wie schneeweißer Marmor. Es war schön hier, alles passte zusammen, die Blumen vor dem Haus waren etwas verwildert, das Haus ein wenig heruntergekommen. Tief in mir breitete sich Wärme aus – ich fühlte mich wohl, an einer Stelle tief in mir, die nicht ans Wohlfühlen gewöhnt war.
    Einen kurzen Moment empfand ich Bedauern darüber, dass uns die Kutsche so nah vor dem Eingang ausgespuckt hatte, so dass ich nicht hatte sehen können, wie Hollyhock aus der Ferne wirkte; ich hätte gern gesehen, wie es zwischen den Bäumen im Park auftauchte, aber niemand konnte erwarten, dass Mylady die ganze Auffahrt hinauflief. Nur die Vortreppe, die konnte ihr niemand ersparen. Und ich würde von nun an hier wohnen, das gab mir genug Gelegenheit, um irgendwann einmal den Park und den Garten hinter dem Haus zu erkunden. Das hieß, wenn mich Mr. Molyneux und seine Schwester nicht versklaven und im Keller festketten würden, was natürlich immer noch nicht ausgeschlossen war. Aber wo er düster war und sie dämmerrosig, verriet mir das Haus sofort, dass es ihr gehorchte und nicht ihm. Es gab Häuser, die keine Männer mochten, und ich hatte Hollyhock im Verdacht, von dieser Sorte zu sein. Was für ein Glück – ein Mann war ich nicht!
    »Komm mit«, sagte Mylady noch einmal, und ich begriff, dass ich wie angewurzelt vor der Kutsche stand und an dem grauen Gebäude hochstarrte, als hätte ich noch nie ein Haus gesehen. Sie stieg die Treppe hinauf, ihre üppigen Röcke mit einer Hand gerafft, und ich folgte ihr etwas zögerlich. Ob ich auch in Zukunft diesen Eingang nehmen durfte oder mich irgendwo seitlich zur Dienstbotentür hineinschleichen musste? Es würde sich zeigen, aber in diesem Moment erinnerte es mich nur wieder daran, dass ich keine Ahnung hatte, was Hollyhock für mich bereithielt. Meine Zukunft war mir nie unklarer gewesen als in diesem Augenblick auf der Treppe – zwischen Haus und Kutsche, Hoffen und Bangen. Alles konnte jetzt passieren.
    Als ich zwischen den Säulen hindurchtrat, wusste ich, es gab
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