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Flut: Roman (German Edition)

Flut: Roman (German Edition)

Titel: Flut: Roman (German Edition)
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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einem echten Gasthof abzusteigen – ob ich mit den Pferden im Stall schlafen müsste oder ein Zimmer bekäme, am Ende gar eines für mich allein … Doch nichts davon. Die Kutsche fuhr und fuhr, es wurde immer dunkler, und das Rütteln, nachdem ich mich einmal daran gewöhnt hatte, schläferte mich ein. Ich dachte nur kurz daran, dass ich noch nichts gegessen oder getrunken hatte seit dem Mittagessen, und dass dieses schon eine Weile zurücklag, aber ich wollte mich nicht deswegen beschweren; die Molyneux’ aßen und tranken während der Fahrt schließlich auch nichts. Und obwohl ich mir vorgenommen hatte, sie ganz genau zu beobachten, tat ich das Gegenteil und schlief ein.
    So verschlief ich den Großteil der Fahrt,  weswegen ich hinterher nicht einmal sagen konnte, wie lange sie nun wirklich gedauert hatte. Ich schlief so friedlich und fest, dass ich nicht einmal merkte, ob wir unterwegs die Pferde auswechselten, oder ob wir zwei Schwestern der legendären Black Bess vor uns hatten, die ihren Herrn, den gefürchteten Straßenräuber Dick Turpin, in einem Tag und einer Nacht von York bis nach London und zurückgetragen hatte. Der Kutscher musste der Teufel selbst sein, und zumindest in meinem Traum war er es auch: ein Höllenkerl mit Hörnern, der auf seine Pferde eindrosch und sie antrieb, dass ihre Hufe den Boden nicht mehr berührten. Und Mr. Molyneux … Und seine Schwester war … Im Traum wusste ich es. Doch kaum war dieser vorbei, erinnerte ich mich nicht mehr. So ist das mit Träumen.
    Ich wurde wach, und das Bild des Hauses, das ich eben noch so klar vor Augen hatte, verschwand. Nun, das sollte meine geringste Sorge sein. Ich würde das echte Haus sehen, sobald wir da waren. Hollyhock. Nicht ganz ein Zirkus. Aber meine neue Heimat.
    Eine Hand an meiner Schulter rüttelte mich leicht. Seltsam, dass ich davon wach wurde – die Kutsche hatte mich die ganze Fahrt über weitaus mehr geschüttelt, aber wer einmal die Betten von St. Margaret’s überstanden hatte, der konnte überall schlafen.
    Trotzdem, ich zögerte, die Augen zu öffnen. Ein letztes Mal versuchte ich, das Traumbild  – noch etwas, das man in St. Margaret’s lernte: Egal wie mies der Traum sein mochte, die Wirklichkeit war immer noch viel mieser. Schließlich blinzelte ich, rekelte mich ein bisschen und schlug die Augen vollends auf. Es war immer noch dämmrig in der Kutsche, aber das Licht war jetzt nicht mehr braungrau, sondern hatte die Farbe von Flieder. Es quoll zur halb offenen Tür herein und machte mich neugierig auf das, was jenseits der Kutsche liegen mochte. Aber zwischen mir und der Außenwelt stand die Lady, Mr. Molyneux’ Schwester, die sich über mich beugte.
    »Genug geschlafen«, sagte sie. »Es ist an der Zeit, aufzustehen. Du sollst nicht in der Kutsche wohnen.« Das waren also die ersten Worte, die sie an mich richtete. Man hätte sie mit einem Lächeln sagen können, sogar mit einem Lachen, aber Mylady sprach kühl und distanziert und artikulierte dabei jeden Buchstaben säuberlich, als ob sie eine fremde Sprache spräche.
    »Ja, Madam«, sagte ich, jeder Zoll wohlerzogenes Waisenmädchen. Rede nur, wenn du gefragt wirst, war uns mit dem Stecken eingebläut worden, und: Kinder soll man sehen, nicht hören. Ich beherrschte all diese Spielchen und Regeln, wenn es darauf ankam. »Vielen Dank, dass Sie und Ihr Bruder mich in Ihr Haus nehmen.«
    »Du wirst noch später Zeit haben, uns zu danken«, sagte sie. »Komm jetzt.« Sie schien es ähnlich eilig zu haben wie ihr Bruder, als er mich aus dem Waisenhaus geholt hatte. Der war dafür nirgendwo mehr zu sehen. Nun, es war sicherlich auch schicklicher, wenn eine Lady mich aufweckte, denn ein Gentleman. Wir wollten doch nicht vom ersten Tag an den Dienern einen Grund zum Tuscheln geben!
    Als ich meinen Kopf aus der Kutsche schob, wurde mir fast schwindelig von der frischen Luft. Anstatt dass ich mich freute, aus dem muffigen Kasten zu steigen, der den Geruch von Staub trug, von Myladys zartem Parfüm und langen Jahren in der Remise, erschlug es mich förmlich. Ich roch das Haus, bevor ich es sah, oder zumindest roch ich seinen Garten. Ein Meer von Blumen, die ich nie zuvor gesehen hatte. Zumindest nicht in natura und in Farbe. Von den schwarz-weißen Kupferstichen im Almanach kannte ich zwar die Namen vieler Pflanzen, und das eine oder andere Exemplar hatte ich natürlich auch auf den sonntäglichen Spaziergängen durch den Park gesehen, aber in dieser Pracht und Vielfalt
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