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Flut: Roman (German Edition)

Flut: Roman (German Edition)

Titel: Flut: Roman (German Edition)
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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der Halle auf mich. Auf uns. Sie brennt darauf, die beiden Kleinen zu sehen.«
    Schon während er die Worte aussprach, wurde ihm klar, wie dumm diese Ausrede war. Er kannte sich im Gesundheitswesen dieses Landes nicht besonders gut aus, aber es war garantiert auch hier nicht üblich, Neugeborene direkt aus dem Kreißsaal zu holen, um sie der stolzen Großmutter zu zeigen, die irgendwo wartete. Aber dumm oder nicht, die Worte taten ihren Dienst. Er konnte weitergehen und steuerte mit schnellen Schritten den Aufzug an und Pjotr folgte ihm. Von den beiden Brüdern war schon nichts mehr zu sehen. Torben nahm an, dass sie die Treppe genommen hatten, um auf das Dach hinaufzukommen, das nur eine Etage über ihnen lag. Ihnen wurde noch zwei oder drei Mal zugeprostet, aber sie erreichten den Lift, ohne noch einmal angehalten zu werden, und traten in die Kabine. Als sich die Türen jedoch schließen wollten, huschte noch eine weitere Person zu ihnen herein. Ein grauhaariger, sehr schlanker Mann mit einem Namensschildchen am Revers seines weißen Kittels, das ihn als Dr. Masewski auswies. Torben fuhr fast, aber eben nur fast, unmerklich zusammen. Sie waren aufgeflogen. Mit seiner dummen Ausrede hatte er die Aufmerksamkeit des Arztes wahrscheinlich erst geweckt.
    Pjotr streckte ruhig die Hand aus, drückte den Knopf für das Dach und trat mit der gleichen Bewegung unauffällig hinter den Arzt. Masewski registrierte es nicht einmal. Er hielt ein Champagnerglas in der Linken, an dem er bisher allerdings nur genippt zu haben schien, und hatte, wie die Schwangere gerade, nur Augen für die beiden Babys. Er sah nicht einmal Torben an. »Das sind also unsere beiden Neujahrsbabys«, sagte er lächelnd. »Eigentlich dürfte ich das ja nicht erlauben, aber weil heute Silvester ist, will ich mal nicht so sein.«
    Er nippte an seinem Glas, sah nun doch hoch und lächelte. Dann wurde aus diesem Lächeln etwas … anderes.
    »Moment mal«, murmelte er. »Wer sind Sie? Was geht hier vor? Sie sind nicht …«
    Pjotr brach ihm das Genick.
    Es ging unglaublich schnell. Torben sah die Bewegung kaum und der Arzt spürte vermutlich nicht einmal mehr den Schmerz, als seine Wirbelsäule mit einem trockenen Knacken brach. Lautlos sank er in den Armen des Russen zusammen, und Pjotr brachte sogar noch das Kunststück fertig, das Champagnerglas aufzufangen, ehe es zu Boden fallen und zerbrechen konnte.
    »Warum haben Sie das getan?«, murmelte Torben. Er war nicht sicher, ob er die Worte wirklich laut aussprach oder nur dachte, und die Antwort interessierte ihn auch nicht wirklich. Er konnte keinen Schrecken mehr empfinden, kein Entsetzen, eigentlich gar nichts mehr. Es war, als wäre er ausgebrannt, hätte in wenigen Augenblicken das ganze Maß an Entsetzen und Furcht und Angst ertragen müssen, für das die gesamte Lebensspanne eines Menschen gedacht war, so dass er nun gar nichts mehr spüren konnte. Er fragte sich nur, wie ihm die Ereignisse derartig aus den Fingern hatten gleiten können. Sein Plan war nicht nur nicht aufgegangen; er war auf die schlimmstmögliche Weise gescheitert.
    Der Lift hielt an. Torben trat, ohne eine Antwort von Pjotr bekommen zu haben, aus der Kabine und fand sich in einem kahlen Treppenhaus aus unverkleidetem Beton wieder. Es gab nur eine einzige weitere Tür, die aus geriffeltem Drahtglas bestand, in dem ab und zu verschwommene Farben aufglommen. Es war sehr kalt. Pjotr benutzte den Oberkörper des toten Arztes, um die Aufzugtüren zu blockieren, dann ging er wortlos an Torben vorbei und stieß die Glastür zum Dach auf. Ein brutal kalter Wind fuhr herein und aus den verwaschenen Farben im Glas wurde das farbenfrohe Spektakel des Feuerwerkes, das noch immer über der Stadt abgebrannt wurde.
    Als sie auf das Dach hinaustraten, stellte Torben beiläufig fest, dass die Tür gewaltsam aufgebrochen worden war und die beiden anderen Söldner bereits auf sie warteten. Lev stand direkt neben der Tür. Er hatte den weißen Kittel ausgezogen und hielt nun die gleiche Art von israelischer Maschinenpistole in beiden Händen, mit der auch Pjotr bewaffnet war. Sein Bruder war zur anderen Seite des Daches gegangen und blickte in den Himmel hinauf. Es sah aus, als beobachte er das Feuerwerk, aber natürlich hielt er nach dem Hubschrauber Ausschau. Er hätte längst hier sein müssen.
    Torben sah umständlich auf die Armbanduhr und runzelte dann überrascht die Stirn. Seit sie in den Kreißsaal eingedrungen waren, waren noch nicht
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