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Flut: Roman (German Edition)

Flut: Roman (German Edition)

Titel: Flut: Roman (German Edition)
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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einmal fünf Minuten vergangen. Der Hubschrauber war überfällig, aber erst seit wenigen Sekunden, nicht seit einer Stunde, wie ihm sein vollkommen zusammengebrochenes Zeitgefühl vorgaukeln wollte. Dennoch – er war überfällig. Selbst jetzt, da aus ihrem so sorgfältig ausgeklügelten Plan ein vollkommenes Fiasko geworden war, erschreckte ihn diese weitere Verzögerung über die Maßen. Vielleicht wollte etwas sie hier festhalten. Vielleicht sollten sie dieses Dach nicht verlassen.
    Eines der beiden Kinder gab einen meckernden Laut von sich; kein Weinen, sondern eher eine Beschwerde. Es war bitter kalt auf dem Dach. Die Temperaturen waren weit unter dem Gefrierpunkt, und die dünnen Tücher boten so gut wie keinen Schutz vor der Kälte und dem schneidenden Wind. Torben drehte sich so hemm, dass die beiden Säuglinge durch seinen eigenen Körper wenigstens notdürftig vor dem Wind geschützt wurden, aber er wusste, wie wenig es nutzen konnte. Sein Blick tastete abwechselnd über die Gesichter der beiden Neugeborenen. Es war ihm unmöglich zu sagen, welches Kind welches war. Obgleich unterschiedlichen Geschlechts, waren sie sich so ähnlich wie das sprichwörtliche Ei dem anderen. Eineiige Zwillinge mit unterschiedlichem Geschlecht. Er wusste nicht einmal, ob das möglich war. Aber welche Rolle spielte das schon bei diesen Kindern? Und noch etwas: Sie waren wunderschön! Torben war alles andere als ein Kindernarr. Anderenfalls hätte man ihn kaum für diese Aufgabe ausgewählt, aber er konnte die Begeisterung der jungen Frau auf der Wöchnerinnenstation plötzlich verstehen. Ihre Gesichter waren glatt und rosig, nicht verschrumpelt und zerknittert, wie es die wenige Minuten alter Säuglinge normalerweise waren, und ihre Augen waren klar und von einem fast furchteinflößenden Wissen erfüllt. Was haben wir diesen Kindern angetan?, dachte Torben schaudernd. Sie waren seit wenig mehr als fünf Minuten auf der Welt und sie hatten bereits das Schlimmste erlebt, was Menschen einander antun konnten.
    Er hörte Schritte, sah hoch und wurde mit einem höchst ungewöhnlichen Anblick belohnt: Pjotr schlenderte auf ihn zu. Er hielt die Maschinenpistole in der rechten und ein klobiges Walkie-Talkie mit einer kurzen Gummiantenne in der linken Hand, und sein Gesicht sah ausnahmsweise einmal nicht aus wie eine Latexmaske, sondern zeigte ein breites Grinsen. »Steht Ihnen gut«, sagte er. »Für einen Mann, der hergekommen ist, um ein Kind zu töten, geben Sie einen hervorragenden Vater ab, finde ich.«
    »Halten Sie den Mund«, antwortete Torben müde. »Sie wissen ja nicht, was Sie getan haben.«
    »So, weiß ich nicht?«, fragte Pjotr. »Warum erklären Sie es mir dann nicht?«
    Und für einen winzigen Moment wollte Torben es sogar. Er wollte nichts mehr, als diesem gewissenlosen Mörder die Wahrheit ins Gesicht zu schreien, damit Pjotr begriff, was er getan hatte, welchen unermesslichen Schaden er angerichtet hatte. Doch wozu? Pjotr würde ihm nicht glauben. Er konnte es nicht. Und selbst wenn, wäre es ihm vermutlich egal. »Weil es Sie nichts angeht«, sagte er grob.
    Das Lächeln auf Pjotrs Gesicht wurde wieder zu der gewohnten undurchdringlichen Maske. Es blieb, aber es war jetzt falsch. »Und wenn ich anderer Meinung wäre?«
    »Dann ist das allein Ihr Problem«, sagte Torben, so kalt, wie es ihm möglich war. »Ich bezahle Ihnen viel Geld dafür, dass Sie mich begleiten und dafür sorgen, dass ich unbehelligt an mein Ziel komme. Ich bezahle Sie nicht dafür, Fragen zu stellen.«
    Pjotr nickte. Er wirkte ein bisschen nachdenklich. Langsam drehte er den Kopf, sah eine Sekunde lang nach rechts, dann eine weitere Sekunde nach links und nickte noch einmal. Etwas an dieser Bewegung beunruhigte Torben. »Ich habe gerade mit dem Hubschrauberpiloten gesprochen«, sagte der Russe. »Er wird in einer Minute hier sein. Wir müssten ihn schon fast hören können. Und Sie haben natürlich Recht. Sie bezahlen mir sehr viel Geld. Fast schon zu viel.« Er drehte sich gemächlich nach rechts, hob die Maschinenpistole und schoss Lev eine einzelne Kugel in die Stirn. Noch während der Söldner zusammenbrach, drehte er sich ohne Hast herum, schaltete seine Waffe auf Dauerfeuer und gab eine zwei- oder dreisekündige Salve ab, und Stanislaw warf die Arme in die Höhe, drehte sich in einer komplizierten Pirouette halb um seine Achse und kippte dann lautlos über das Dach in die Tiefe.
    Torben riss entsetzt die Augen auf. »Warum … haben Sie
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