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Flügel aus Asche

Flügel aus Asche

Titel: Flügel aus Asche
Autoren: Kaja Evert
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die Dächer davonjagten oder in den Himmel aufstiegen. Am Fuß der Treppe, die zur Akademie hinaufführte, blieb Adeen für einen Moment stehen, um ihnen mit zurückgelegtem Kopf nachzusehen. Wie mochte die Stadt wohl von dort oben aussehen?
    Erst als er vor Kälte zu frösteln begann, merkte er, dass er schon zu lange dastand. Die anderen Schreiber hatten sich längst auf den Heimweg gemacht. Manchmal vergaß er alles um sich her, wenn er in den Himmel starrte. Diese weite, leere Fläche war unwiderstehlich.
    In seiner Tasche fischte Adeen nach den Münzen, die ihm der Aufseher gegeben hatte. Fast gewichtlos lagen sie in seiner Hand. Es war nicht viel, doch wenigstens für ein Abendessen und für Rasmis Rakashwurzeln würde es reichen. Er konnte froh sein, dass er überhaupt etwas bekommen hatte, schließlich hatte er sein Tagespensum nicht eingehalten. Und er hatte Glück gehabt, dass Kiven keine Gelegenheit geblieben war, die Papierbögen nachzuzählen.
    Eine Windbö fauchte die Straße entlang. Adeen zog sich die Kapuze tief ins Gesicht und vergrub die Hände in den Ärmeln. So machte er sich auf den Weg zum Markt. Das gestohlene Papier schmiegte sich warm gegen seine Haut, und er achtete sorgfältig darauf, dass es sich nicht verschieben oder herausfallen konnte.
    Zwar boten einige verwegene Händler Lebensmittel und Wasser auf dem Schwarzmarkt an, doch es war klüger, Rakash, Mehl und alles andere auf den staatlichen Märkten zu besorgen und die höheren Preise zu bezahlen. Angeblich wurde an bestimmten Orten unter der Hand sogar das süße Mehl verkauft, das die Oberschicht in geheimen Gärten anbauen ließ – kein bitteres Felsbrotmehl, wie es die gewöhnliche Bevölkerung aß. Aber Adeen legte keinen Wert darauf, seine Gesundheit für eine Handvoll Wurzeln oder Mehl aufs Spiel zu setzen. Einmal hatte er beobachtet, wie die Wachtruppen mit einem Mädchen umgesprungen waren, das heimlich Wasser aus einem der Sammelbecken geschöpft hatte, ohne die Gebühr dafür zu entrichten. Als sie mit ihr fertig waren, lag sie reglos da, und ihr Blut glänzte auf den Pflastersteinen. Einen Augenblick lang war Adeen damals versucht gewesen, zu ihr zu laufen, sie aufzurichten und ihr das Blut abzuwischen – doch dann hatte er weggesehen und seine Schritte beschleunigt, um so rasch wie möglich fortzukommen, wie alle anderen auch.
    Was war aus dem Mädchen geworden? Hatte sie überlebt? Er würde die Antwort auf diese Fragen wohl nie erfahren, doch jedes Mal, wenn er den Markt betrat, schoben sich die Bilder wieder vor sein inneres Auge, und er schämte sich für seine Feigheit. Er hatte sich fest vorgenommen, beim nächsten Mal nicht noch einmal wegzusehen – aber ob er diesen Mut tatsächlich aufbringen würde?
    So geht es nicht weiter. Etwas muss sich ändern.
Für einen Moment waren diese Gedanken klar und stark in Adeen, dann schwemmte das Gefühl der Hilflosigkeit sie wieder fort.
    Langsam ging er die Akademiestraße entlang in Richtung Markt. Überall standen Wachen, schon seit Tagen deutlich mehr als sonst. Adeen vermutete, dass es mit der bevorstehenden Landung der Stadt zusammenhing. In ihren schimmernden Stoffrüstungen mit den aufgestickten Schutzzaubern waren die Magierkrieger des Herrschers furchteinflößend anzusehen. Ihre geschnitzten Holzhelme hatten die Form von Drachenköpfen. Sie verbargen die Gesichter ihrer Träger und ließen sie aussehen wie die wilden, halb menschlichen Kreaturen aus dem Zeitalter der Sagen. Die eingebrannten magischen Schriftzeichen machten das bemalte Holz härter als Metall. Die meisten Wachen waren bis auf ihre Dolche unbewaffnet, denn ihre Zauber hinterließen schlimmere Wunden als jedes Schwert. Deshalb trugen sie lediglich einen Köcher mit magischen Schriftrollen am Gürtel. Adeen machte einen großen Bogen um sie. Ihre Anwesenheit verriet, dass der Herrscher um die Sicherheit in der Stadt fürchtete, und das war nie ein gutes Zeichen. Es konnte bedeuten, dass man schneller in Ärger verwickelt wurde, als man überhaupt etwas Verdächtiges tun konnte. Und manchmal mochte es schon verdächtig sein, mehr schrumpelige Rakashwurzeln mit sich herumzutragen, als man auf einmal essen konnte. Dann machten sich die Wachen im harmlosesten Fall einen Spaß daraus, nachzusehen, wer sich unter der weiten Schreiberrobe verbarg. Sie durchsuchten ihn, zwangen ihn auch bei Regen, sich bis auf die Unterhose auszuziehen, verpassten ihm ein paar Schläge als Erinnerung und ließen ihn
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