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Flüchtig!

Flüchtig!

Titel: Flüchtig!
Autoren: Jonathan Kellerman
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Gesicht wirkte schmaler und älter, die Wangenknochen traten deutlicher hervor, die Augen lagen tiefer in den Höhlen. Die Gefängnisblässe bleichte allmählich den goldenen Schimmer ihrer Haut. Sie war immer noch wunderschön, aber es zeigten sich erste Beeinträchtigungen wie bei einer am Vortag geschnittenen Rose.
    Sie legten ihr Handfesseln an - sehr sachte, wie ich meine -, und führten sie zur Tür. Als sie an mir vorbeikam, begegneten sich unsere Blicke. Die dunklen Augen schienen zu schmelzen und feucht zu werden. Dann verhärtete sich ihr Ausdruck; sie hielt den Kopf hoch und ging hinaus.

28
    Ich fand Raoul in seinem Labor, wo er auf einen Computerbildschirm starrte, der Reihen polynomischer Werte über einer mehrfarbigen Graphik zeigte. Er murmelte etwas auf spanisch, prüfte ein paar ausgedruckte Blätter, kehrte dann zur Tastatur zurück und tippte rasch eine neue Folge von Zahlen ein. Bei jeder zusätzlichen Eingabe veränderte sich die Höhe der einzelnen Graphiksäulen. Das Labor war ungelüftet und von säuerlichen Dämpfen erfüllt. Im Hintergrund klickten und summten High-Tech-Geräte.
    Ich nahm einen Hocker, stellte ihn neben den seinen, setzte mich und sagte »Hallo!«
    Er begrüßte mich mit einer Abwärtsbewegung seiner Mundwinkel und setzte die Arbeit am Computer fort. Die Blutergüsse auf seinem Gesicht waren teils purpurn, teils grün geworden.
    »Du weißt es also«, erklärte er.
    »Ja, sie hat es mir gesagt.«
    Er tippte und hämmerte dabei wütend auf die Tastatur ein. Die Graphik veränderte sich.
    »Meine Moral war nicht besser als die von Valcroix. Sie ist hereingekommen in einem hautengen Kleid, hat mit dem Hintern gewackelt und es unter Beweis gestellt.«
    Ich besuchte ihn in seinem Labor mit der Absicht, ihn zu trösten. Es gab Dinge, die ich hätte sagen können. Daß Nona zu einer Waffe geworden war, einem Instrument der Rache, mißbraucht und ausgenutzt, bis Sex und Zorn sich untrennbar miteinander verbunden hatten - und daß man sie dann losgelassen hatte auf eine Welt aus schwachen Männern, wie eine Rakete, die dazu bestimmt war, allen ins Herz zu zielen. Ich hätte ihm sagen können, daß er zwar einmal einen Fehler gemacht hatte, aber daß das keineswegs all das Gute auslöschen würde, was er bis dahin getan hatte. Daß mehr gute Arbeit geleistet werden mußte, und daß die Zeit die Wunden heilen würde.
    Aber die Worte hätten hohl geklungen. Er war ein stolzer Mann, der ein einziges Mal vor meinen Augen sein Gesicht verloren hatte. Ich war Zeuge gewesen, wie er zerfetzt und zerschunden und halbverrückt in einer stinkenden Haftzelle gelegen hatte, von dem Zwang besessen, seinen Patienten wiederzufinden. Dieser Zwang war durch sein Schuldgefühl ausgelöst worden, durch die fälschliche Annahme, daß seine Verfehlung - zehn wollustverblendete Minuten mit der gierig vor ihm knienden Nona - die Entführung des Jungen und die Unterbrechung der Behandlung verursacht hatte.
    Mein Besuch bei ihm war ein Fehler, wie mir sehr schnell klar wurde. Das, was uns an freundschaftlichen Gefühlen verbunden hatte, war aufgebraucht, und damit auch meine Überzeugungskraft, mit der ich ihn hätte trösten können.
    Wenn es eine Erlösung für ihn gab, mußte er sie selbst finden.
    Ich legte meine Hand auf seine Schulter und wünschte ihm alles Gute. Er zuckte mit den Achseln und starrte auf den Bildschirm.
    Als ich ihn verließ, hatte er die Nase auf einen Stapel von Daten gesenkt und fluchte laut über eine ihm unverständliche Abweichung bei seinen Zahlengruppen.
    Ich fuhr auf dem Sunset Boulevard langsam in Richtung Osten und dachte über den Begriff ›Familie‹ nach. Milo hatte mir einmal gesagt, daß der Beistand bei familiären Auseinandersetzungen zu den gefürchtetsten Amtshandlungen der Polizeibeamten zählte, denn sie drohten stets in Gewalttaten von überraschender, ja nicht selten mörderischer Intensität auszuarten. Und ich hatte einen guten Teil meines Lebens damit verbracht, für die in Unordnung geratenen Beziehungen, gärenden Feindseligkeiten und erstarrten Gemütsbewegungen, wie sie bei gestörtem Familienleben charakteristisch waren, brauchbare und praktikable Lösungen zu finden.
    Sicher, es war leicht, zu behaupten, daß nicht viel dagegen unternommen werden konnte. Daß die Fesseln des Bluts die Seele erwürgten.
    Aber mir war bewußt, daß die Realität des Polizeibeamten vom täglichen Kampf gegen das Böse beeinflußt wurde, und die des Psychotherapeuten durch
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