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Flatline

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Titel: Flatline
Autoren: Erwin Kohl
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    Buenos Aires.
 Thomas Stachinsky saß in einer kleinen Parilla in Puerto Madero, dem alten Hafen von Buenos Aires. Das Bife de Chorizo lag glänzend vor ihm auf dem Teller. 
Alpunto
 – zartrosa und saftig, so mochte er die Steaks der Angus-Rinder aus der nahen Pampa am liebsten. Vor fast zwanzig Jahren hatte er Deutschland den Rücken gekehrt. Damals hatte er sich noch Sorgen um seinen empfindlichen Magen gemacht. Er erinnerte sich noch heute an sein erstes Asado in La Boca, dem »italienischen« Viertel der Stadt. Staunend hatte er vor der riesigen Feuerstelle gestanden. Rundherum auseinandergeklappte und ausgenommene Rinder, die wie Windfänge um das Feuer schwebten. Sein Magen rebellierte. Erst nach drei Gläsern eines tiefroten und fruchtigen Malbec-Weines hatte der Hunger gesiegt. Seither wusste er das zarte Fleisch der Pampasrinder zu schätzen.
    Stachinsky kaute lustlos an einem kleinen Stück Fleisch. Zwanzig lange Jahre wartete er nun bereits. Auf seinen einzigen Sohn – den er nur von Bildern kannte. Seinetwegen lebte er in Buenos Aires, seinetwegen wollte er nun zurück, ihn endlich in die Arme schließen nach der langen Zeit.
    Ihm fehlte nichts, er führte ein Leben, um das man ihn in Deutschland beneiden würde. Stachinsky wohnte in einer kleinen Villa in Palermo. Im Stadtteil Barrio Norte. Hier lebten diejenigen, die es geschafft hatten, sich durch Korruption und windige Geschäfte in die Oberschicht der Stadt zu hieven, einträchtig neben Politikern und Bankern. Der Preis für die Freiheit war hoch, es schmerzte ihn damals.
    Nachdenklich legte er einige Geldscheine auf den Tisch und verließ das Lokal. Die Dämmerung setzte allmählich ein, die breite Uferpromenade füllte sich. In Gedanken vertieft schlenderte Stachinsky Richtung Cordoba, Ecke Madero. Von hier aus wollte er mit dem Buquebus, einer Schnellfähre, nach Montevideo übersetzen. Es war die einzige Möglichkeit, noch heute einen Flieger nach Deutschland zu bekommen.
    Lichter gingen an und hüllten die alten restaurierten Lastkräne im Hafen in seltsam anmutenden Glanz. Stachinsky dachte zurück. Markus war zwei Monate alt gewesen, als sie Helena in der Gosse gefunden hatten.
    Sie hatten das Haus zwei Jahre zuvor verkauft, zusätzlich hohe Kredite aufgenommen für Helenas Therapie in der Schweiz. Ihre Rückkehr war gefeiert worden wie ein zweiter Geburtstag. Dann die Schwangerschaft, seine Beförderung. Klein und unscheinbar, aber immer deutlicher war das Licht am Ende des Tunnels zu sehen gewesen, bis zu diesem Tag. Als der Anruf der Bahnpolizei kam, hatte niemand damit gerechnet. Die Spritze lag noch neben ihr. Das Licht war erloschen.
    Markus war damals mit einem schweren Herzfehler zur Welt gekommen. Die Chance, durch eine Operation in England sein Leben zu retten, wurde von seiner Krankenkasse als zu gering eingestuft. Für Thomas Stachinsky schien es nur diesen einen Weg zu geben.
    Markus musste viermal am Herzen operiert werden. Er wuchs bei seinen Großeltern auf, die vor drei Jahren kurz hintereinander gestorben waren. Sein Sohn wohnte seitdem in einer WG. Stachinsky finanzierte ihm auch das Studium mit seinen regelmäßigen Schecks. Er war so stolz. Sein Sohn würde es schaffen, rauskommen aus dem Elend, in das er hineingeboren wurde. Er freute sich so sehr, dass er die Tage zählte, bis er ihn wiedersehen konnte. Vor drei Stunden wollte er seinen Besuch telefonisch ankündigen.
    Sie nannte sich Rebecca, mehr nicht, und ihre Worte ließen sein Herz rasen. Als er den Namen seines Sohnes aussprach, begann ihre Stimme zu zittern. Vor zwei Tagen wollte er nachmittags noch einmal zur Universität gehen. Seitdem hatte ihn niemand mehr gesehen. Stach-
    insky konnte es nicht glauben. Letzte Woche hatte er seinem Sohn dieses Telefonat schriftlich angekündigt. Er musste zunächst zu Eduardo Perez, seinem Anwalt. Inklusive einer Sicherheitsfrist von drei Tagen hätte Stachinsky kommende Woche ausreisen können. Er musste es sofort riskieren, auf die Gefahr hin, zwanzig lange Jahre vergebens in Buenos Aires verbracht zu haben.
    Noch einmal sah er seine Unterlagen durch. Das Ticket für den Direktflug nach Brüssel, vorsichtshalber, der argentinische Reisepass auf den Namen Alfredo Guthmann, alles war vorbereitet.
    Einsam stand Stachinsky an der Kaimauer und blickte mit gesenktem Kopf in das schmutzige Wasser des Hafenbeckens. Die Nacht löschte seinen blassen Schatten. Seine Gedanken wurden
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