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Titel: Flatline
Autoren: Erwin Kohl
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größere Probleme stellen sollte. Es wäre ein Fall für die Mordkommission, falls überhaupt Anhaltspunkte für ein Gewaltdelikt vorlägen. Das unauffällige äußere Erscheinungsbild wertete der Ermittler nicht als Indiz. Es gab Ärzte, die über Jahrzehnte starke Drogen konsumierten, ohne auffällig zu werden. Die Gerichtsmedizinerin schien seine Gedanken erraten zu haben.
    »Und nun zum Grund meines Besuches. Im Körper des Toten haben wir eine hohe Menge an Hepatitis-B-Erregern nachgewiesen. Bei Drogenabhängigen nichts Ungewöhnliches. Die Erreger werden meistens über gemeinsam genutzte Spritzen übertragen. Die enorme Konzentration der HBV-DNA im Blut spricht eindeutig für eine Leberinfektion. Das Organ scheint allerdings in keiner Weise angegriffen. Zumindest nach den vorläufigen Untersuchungen.«
    Wieder machte die Ärztin eine kurze Pause. Karin, die bis dahin gedankenversunken kleine Männchen auf ihre Unterlage gemalt hatte, konnte das Ungewöhnliche daran nicht erkennen.
    »Vielleicht hat er sich die Erreger kurz vor seinem Tod eingefangen, ich meine, vielleicht konnte die Krankheit gar nicht mehr ausbrechen.«
    Judith Vanderheyden erstickte Karins Ansatz mit einem leichten Kopfschütteln bereits im Keim.
    »Dazu hätte er die Viren löffelweise zu sich nehmen müssen, übertrieben ausgedrückt. Eine derart hohe Konzentration entsteht nur, wenn die Viren an Wirtszellen andocken und sich so vermehren können. Eine natürliche, orale Aufnahme in dieser Größenordnung ist unmöglich. Selbst zehn an Hepatitis B erkrankte Patienten in einem Zimmer würden diese Menge nicht abgeben können. Aber selbst, wenn ihm diese Viren künstlich zugefügt worden wären, stünden wir vor dem Rätsel, warum die Leber nicht infiziert ist. Das körpereigene Immunsystem zerstört befallene Zellen. Wir hätten also in jedem Fall Rückstände dieser Zellen entdecken müssen.«
    Joshua konnte sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, ein medizinisches Rätsel zu lösen. Für ihn war einzig entscheidend, ob es sich um ein Gewaltverbrechen handelte oder nicht. Er konnte immer noch nicht verstehen, warum die Kollegen das LKA um Mithilfe gebeten hatten.
    »Das ist schon merkwürdig genug«, fuhr die Gerichtsmedizinerin fort, »aber es kommt noch dicker. Ich habe mich heute Morgen mit dem Kollegen Strietzel unterhalten. Er hat gestern Abend einen Drogentoten aus Krefeld obduziert. Dieser weist exakt denselben Befund auf.«
    Karin lag die Frage auf der Zunge, wie so etwas möglich sei. Die Antwort konnte sie sich denken.
     
     

6
    Luxemburg. Die Mittagssonne hüllte den Place de la Constitution in gleißendes Licht. Ihr fehlte aber die Kraft, die Menschen aus ihren dicken Wintermänteln zu treiben. Ebenso wenig schaffte sie es, den Frost aus seinem Herzen zu jagen, die eisigen Gedanken zu schmelzen und Hoffnung freizulegen. Thomas Stachinsky saß auf einer Bank oberhalb der Petruskasematten. Sein leerer Blick endete an der Pont Adolphe, ohne die alte Brücke, die wie ein steinerner Arm das Petrustal überragte, wahrzunehmen.
    Während des langen Fluges von Montevideo nach Brüssel hatten Zweifel an dem letzten Rest Zuversicht genagt, den er versuchte aufrechtzuerhalten. Nur kurz, für eine halbe Stunde, war es Stachinsky gelungen zu schlafen. Ein Traum hatte dafür gesorgt, die Sorgen zu vertreiben. Ein Traum, in dem sich in der Luft ihre Wege kreuzten. Markus hatte sich spontan dazu entschlossen, seinen Vater zu besuchen. Er hatte es niemandem erzählt, es sollte eine Überraschung werden.
    Eine Stewardess brachte das Frühstück – die Zweifel kehrten zurück. Wie mächtige, dunkle Mauern umschlossen sie seine Gedanken. Als Stachinsky die alten Gemäuer des Brüsseler Flughafens verließ und in den Mietwagen gestiegen war, hatten die Freude auf das Wiedersehen mit seinem Sohn und eine Riesenportion Hoffnung die Zweifel und Ängste in den Hintergrund gedrängt. Er glaubte, hysterisch zu reagieren, zwang sich zu Optimismus. Kurz-entschlossen fuhr er zuerst nach Luxemburg, um seiner Bank einen Besuch abzustatten. Stachinsky wollte seinem Sohn nicht mit leeren Händen gegenüberstehen.
    Vor wenigen Minuten hatte Stachinsky in der Wohngemeinschaft seines Sohnes angerufen. Er stand auf, legte seinen Kopf in den Nacken und atmete schwermütig die kalte Winterluft ein. Vor ihm ragte der Obelisk in den Himmel, auf dessen Spitze die Gelle Fra thronte. Sie sollte an das Leid der Luxemburger während der
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