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Flammenbucht

Flammenbucht

Titel: Flammenbucht
Autoren: Markolf Hoffmann
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sich rot. Auch die Mutigsten wichen nun von den Treppen zurück. Angstschreie drangen aus der Menge. Die Mönche flehten ihre Götter an, Harsas nicht für die Sünden der Königin zu bestrafen, die Arphat in diesen Tagen im Stich gelassen hatte.
    Ihre Gebete schienen erhört zu werden, denn die Schwaden lichteten sich. Nebel war von der Meerseite aufgezogen und löschte mit seiner Kühle den Schwefelgeruch. Ergriffen sanken die Menschen auf die Knie, dankten lauthals dem Meergott Candra und dem Sonnengott Agihor für ihre Gnade.
    »Der Nebel… seht ihr nicht den Nebel?«
    Nur wenige vernahmen die Worte der alten Frau, die noch immer auf den Treppenstufen kauerte. Dort hatte sie während des Aufwallens der Schwefelquellen verharrt, sich von der ausbrechenden Panik nicht anstecken lassen. Nun hob sie erneut die Stimme.
    »Ich habe euch gewarnt! Nebel wird aufziehen, und die Schlange von Harsas wird ihr Haupt über die Bucht erheben.« Tränen glitzerten in ihren blinden Augen. »Ich habe euch gewarnt, ihr Törichten! Flieht, solange ihr noch könnt!«
    Einer der Umstehenden befahl ihr, endlich still zu sein. Niemand wollte mehr ihre Geschichten hören, sich dem Schauder ihrer Worte hingeben. Doch der Nebel hatte sich in der Tat auf unheimliche Weise verdichtet. Kühl und naß strömte er vom Meer heran und hüllte die Küste in kurzer Zeit ein.
    »Die Schlange von Harsas wird uns alle verschlingen!« rief die alte Frau. »Erkennt ihr nicht die Gefahr? Spürt ihr nicht die Nähe der Schlange? Meine Augen sind vor langer Zeit erblindet, und doch scheine ich in dieser Stadt die einzige Sehende zu sein. Flieht endlich! Flieht!«
    Über der Bucht von Harsas lag eine bedrohliche Stille; der Nebel schluckte sämtliche Geräusche, das Plätschern des Wassers, das Brodeln der Quellen. Verwirrt starrten die Menschen auf das Wasser, das im undurchdringlichen Weiß verborgen lag. Rötliche Schleier tanzten durch den Nebel wie aufwehende Seidentücher.
    Dann bemerkten sie den Schatten. Ein dunkler Schemen formte sich aus dem Nebel, riesenhaft, gewaltig. Die Menschen richteten die Blicke empor. Über ihren Köpfen formlose Schwärze, goldglimmender Schrecken. Ein Fauchen zerriß die Stille. Die Schlange von Harsas erhob ihr mächtiges Haupt, tauchte empor aus den nebelverhangenen Fluten … nein, es war keine Schlange, sondern der goldene Bug eines Schiffes, das in die Bucht von Harsas einlief, und das Fauchen war das Flattern seiner Segel, die wie die Köpfe eines Drachen über dem Schiffsleib thronten. Die Goldei hatten Harsas erreicht.
    Folgendes wird vom Fall der Stadt Udan'Andor berichtet:
    In der Stadt Udan'Andor, die am Rand der praatischen Wüste lag und die man die Stadt der Entsagung nannte, herrschten die Blinden über die Sehenden. In den Gründungstagen der Stadt hatte sich Udan'Andor eines scheußlichen Verbrechens schuldig gemacht und war deshalb von den Göttern verflucht worden. Um sie zu besänftigen, mußten sämtliche Bewohner Udan'Andors ein Opfer erbringen: Mit dem Erreichen des zwölften Lebensjahres wurden den Kindern beide Augen herausgeschnitten. Der Verlust ihres Augenlichtes sollte die Gunst der Götter und somit das Fortbestehen der Stadt erkaufen.
    Damit das Leben in Udan'Andor funktionieren konnte, gab es eine große Anzahl von Sklaven, die nicht geblendet waren. Sie führten ihre Herrscher durch die Straßen, errichteten ihnen prächtige Bauten und erledigten einen Großteil der anfallenden Arbeit. Sie fügten sich klaglos in ihr Schicksal, denn auch sie wollten die Götter nicht durch Ungehorsam erzürnen.
    Insgeheim aber beneideten die Blinden ihre sehenden Sklaven, denn sie erinnerten sich gut an ihre unbeschwerte Kindheit, an das Licht und die Farben und die Schönheit der Stadt, die sie seitdem in ewiger Dunkelheit erlebten. Aus Eifersucht sagten sie den Sklaven nach, die Häuser mit kunstvollen Bildern und Ornamenten zu verzieren, an denen nur sie sich erfreuen konnten, und Gerüchte gingen um, daß sich die Sklaven gegen die Blinden verschworen, um die Herrschaft an sich zu reißen. Neid und Furcht brachten die Blinden schließlich dazu, ihre Sklaven zu verstümmeln; sie amputierten ihnen die Zungen, damit sie keine Ränke mehr schmieden konnten, und die Finger, um sie am Zeichnen und Malen zu hindern. Schließlich zerquetschten sie ihnen die Füße, denn sie hatten berechtigte Sorge, daß die Sehenden fortlaufen und sie im Stich lassen könnten.
    Da die Sklaven jedoch nun weder laufen noch
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