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Flagge im Sturm

Titel: Flagge im Sturm
Autoren: Mirinda Jarrett
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ihren Kummer über den Tod des Fremden auch so leicht abschütteln. Es war doch wirklich töricht, um jemanden zu trauern, den man nicht einmal kannte.
    „Wir werden ihn jetzt zum Haus mitnehmen, und falls sich niemand nach ihm erkundigt, werden wir dafür sorgen, dass er ein christliches Begräbnis bekommt“, erklärte sie. „Und du redest gefälligst nicht mehr von Piraten und Hinrichtungen!“
    Zuerst glaubte sie an eine Täuschung, doch im flackernden Laternenlicht schien es ihr, als hätte der Tote bei ihren letzten Worten die Stirn gerunzelt. Dann fing Caleb neben ihr zu fluchen an und befingerte den Talisman an seinem Hals. Die beiden Brüder Reed traten unsicher zurück, sie hatten es auch gesehen.
    Demaris ließ sich rasch wieder auf die Knie hinab. Sie schob dem Mann das Haar sowie die nasse Halsbinde fort und suchte nach dem Aderschlag an seinem Hals.
    „Gebt acht, Mistress, wenn Ihr einen Toten anfasst, der sich bewegt“, warnte Caleb.
    „Wenn er sich bewegt, ist er nicht tot“, erwiderte Demaris. „Und wir haben ihn hier halb im Wasser liegen lassen! Kommt, vielleicht überlebt er, wenn wir ihn an ein Feuer betten, und erzähle mir jetzt nicht, Master Allyn hätte das nicht getan, denn er würde es sehr wohl getan haben. Beeilt euch! “
    Während Caleb und die beiden Reeds mit dem Bewusstlosen über den Strand stolperten, lief Demaris zum Haus voraus, um Feuer zu machen. Mit zitternden Fingern suchte sie danach die Dinge zusammen, die sie für die Versorgung des Mannes benötigte. Dies alles war fast genauso wie in jener Nacht im vergangenen Herbst, als man ihr Eben gebracht hatte. Nur damals hatte sie nicht das Geringste tun können.
    „Sein Bein blutet stark, Mistress“, stellte Caleb fest, nachdem sie den Mann auf den langen Bocktisch gelegt hatten, „und Daniel meint, er hätte auch einen Schlag über den Schädel gekriegt.“
    Demaris nickte nur. Hier auf dem Küchentisch ausgestreckt, wirkte der leblose und totenbleiche Fremde noch riesiger. Als sie ihm die blutdurchtränkte Kniehose zerriss, spürte sie, dass Caleb sowie die beiden Reeds vertrauensvoll und zuversichtlich zuschauten, und sie wünschte nur, sie könnte die Zuversicht der Männer teilen.
    Als Herrin von Nantasket hatte sie schon unzählige Wunden und Knochenbrüche ihrer Leute behandelt, doch auf die entsetzliche Schussverletzung, die sie hier vorfand, war sie nicht vorbereitet. Mit Schießpulver verunreinigte Wunden waren selten harmlos. Demaris musste wieder an Eben denken und an dessen mit Blut durchtränkten Rock. Sie dachte auch an das, was Daniel über die Piraten von Boston gesagt hatte, doch diesen Gedanken schob sie rasch wieder beiseite. Dieser Mann hier brauchte ihre Hilfe, und nicht ihre Verdammung.
    Mit einer schmalen, langen Messerklinge und mit den Fingern holte sie die Kugel heraus, die tief in seinem Oberschenkel steckte. Glücklicherweise blieb der Mann bewusstlos. Caleb und Seth hielten ihn zwar fest, doch er bewegte sich kein einziges Mal, und der Krug mit betäubendem Jamaikarum, den Demaris vorsichtshalber bereitgestellt hatte, wurde nicht benötigt. Die abgeflachte Bleikugel bewahrte sie auf für den Fall, dass der Fremde sie später als Andenken haben wollte. Männer hatten ja manchmal solche merkwürdigen Einfälle. Demaris wusch sich das Blut von den Händen, verteilte dann einen Heilbrei über der Wunde und wickelte einen sauberen Leinenverband um den Oberschenkel.
    Verglichen mit der Schusswunde war die Verletzung an seinem Hinterkopf eher geringfügig - eine Beule von der Größe eines Gänseeis sowie eine Platzwunde, die jedoch mit drei Stichen mittels einer geölten Nadel leicht zu schließen war. Mit Calebs Hilfe zog Demaris dem Mann die durchnässte Kleidung aus und warf sie auf den Boden. Seth hatte recht, der Schiffbrüchige war tatsächlich so kräftig wie ein Ochse, breitschultrig und muskelbepackt. Dunkles Haar kräuselte sich auf seiner Brust und den Unterarmen, und überall erkannte man alte Narben von Dolch- oder Säbelverletzungen.
    Selbstverständlich hatte sie Eben unbekleidet gesehen, doch der Fremde war so ganz anders. Trotz seiner Bewusstlosigkeit zeigte sich seine Kraft so offensichtlich, dass Dem-aris sich scheute, ihm die zerrissene Hose vor den Augen der anderen herunterzuziehen.
    Caleb und die beiden Brüder Reed halfen ihr, den Bewusstlosen auf die Rollpritsche zu legen, die sie vor das Herdfeuer geschoben hatte. Mit dem vertrauten, abgenutzten Bettzeug zugedeckt,
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