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Flagge im Sturm

Titel: Flagge im Sturm
Autoren: Mirinda Jarrett
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taub wie ihre Finger. Wahrscheinlich hatte sie sich noch nie in ihrem Leben so elend gefühlt.
    Im Übrigen hatte Caleb natürlich völlig recht, was ihren Ehemann betraf. Aller Brandy der Welt hätte Eben in einer solchen Nacht nicht von seinem Kamin und seinem Pfeifchen fortlocken können. Sie allein war diejenige, die auf diesem närrischen Unternehmen bestanden hatte, weil sie Kapitän van Vere nicht verärgern mochte. Wenn die feinen Herren in Newport unbedingt ihren Brandy und die französischen Weine zollfrei genießen wollen, dachte Demaris jetzt auch verärgert, dann sollen sie sich doch selbst bei Nacht, Wind und Regen an Nantasket Point stellen.
    Sie hob die Laterne auf. Der Kerzenschein beleuchtete Calebs breites Gesicht unter der Hutkrempe. „Also kommt“, sagte sie und warf noch einen letzten Blick zum leeren Horizont. „Ich habe euch drei lange genug hier draußen behalten, besonders dich, Caleb. Deine Ruth reißt mir den Kopf ab, falls du von der Nasskälte wieder Schulterreißen bekommst.“
    „Ach, die sagt doch niemals ein böses Wort gegen Euch, Mistress“, wehrte Caleb ab, dessen Laune auf dem Heimweg mit jedem Schritt besser wurde. Er lächelte so breit, dass die weißen Zähne in seinem schwarzen Gesicht aufleuchteten. „Und außerdem kann nicht einmal Ruth dem Wind befehlen, aus Süden zu blasen, wenn er unbedingt aus Norden kommen will.“
    „Egal aus welcher Richtung, er bringt immer Gutes, Caleb Turner“, erklärte Seth, der seine eigene Laterne hochhielt. „Morgen werden wir hier jede Menge angeschwemmtes Treibgut finden. Beim letzten Sturm habe ich ein ganzes Fass voll Walrat gefunden, so sauber, als hätte ich’s mir direkt aus Nantucket bestellt.“
    Demaris wickelte sich noch fester in ihren Umhang ein. „Du darfst wieder alles behalten, was du morgen früh findest, Seth. Und jetzt ...“ Sie redete nicht weiter, denn ein dunkler Schatten auf dem hellen Sand unten an der Wasserlinie hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Sie kletterte von den Felsbrocken hinunter. Am Strand angekommen, stellte sie fest, dass es sich um einen Mann handelte, der mit ausge-breiteten Armen so dalag, wie ihn die Brandung wohl angespült hatte.
    Demaris zögerte einen Moment. Sie wollte nicht die Erste sein, die in das aufgedunsene Gesicht des Ertrunkenen blickte. Die Schritte der nachfolgenden Männer erinnerten sie allerdings daran, dass sie ja deren Anführerin war und sich deshalb nicht vor einer armseligen Wasserleiche fürchten durfte. Entschlossen trat sie heran und hielt ihre Laterne über das Gesicht des Leblosen. Was sie sah, ließ ihr den Atem stocken.
    Der Angeschwemmte war schlicht und einfach einer der schönsten Männer, die sie je gesehen hatte. Er hatte ein festes, kräftiges Kinn, eine gerade Nase und einen Mund, der zum Lachen geschaffen schien. Tiefe Fältchen zogen sich um seine Augen, und seine Gesichtshaut war wettergegerbt. Er war also ein Seemann gewesen wie Eben.
    Langes, nasses dunkles Haar umrahmte sein jetzt wachsbleiches Gesicht, das so entspannt wirkte, als schliefe er nur. Seine Augen waren geschlossen und seine Lippen ein wenig geöffnet. Sie kniete sich neben ihn, zog sich die Wollhandschuhe aus und wischte ihm sanft den nassen Sand vom Kinn. Seine Haut fühlte sich eiskalt an.
    Demaris ertappte sich bei der törichten Frage, welche Farbe wohl die Augen hinter den dichten schwarzen Wimpern hatten. Wie mochte wohl sein Lächeln ausgesehen haben? Sie schätzte, dass er ungefähr dreißig Jahre zählte, also nicht viel mehr als sie selbst mit ihren sechsundzwanzig. Auf jeden Fall war er entschieden zu jung zum Sterben.
    „Du lieber Himmel, ist der aber hübsch“, stellte Seth hinter ihr fest. „Sieht nicht so aus, als ob er schon lange tot wäre. Und wie groß er ist! Und stark wie ein Ochse. Mit dem hätte ich mich nicht gern anlegen wollen, bestimmt nicht.
    Caleb hielt seine Laterne über die Brust des Mannes. „Einer von den feinen Leuten“, meinte er. „Spitzenmanschetten wie ein Lord und mindestens ein Pfund Messing in seinen Knöpfen. Allerdings habe ich noch nie einen Gentleman gesehen, der so einen scharlachroten Rock tragen würde.“
    „Nein, der da ist ein Pirat!“, erklärte Daniel genüsslich. „Ich habe die Piraten gesehen, die in Boston aufgeknüpft wurden, und der Anführer von denen hat genauso einen
    Rock angehabt, und ... “
    „Genug jetzt, Daniel Reed!“ Demaris erhob sich, schüttelte sich den Sand vom Umhang und wünschte, sie könnte
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