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Flagge im Sturm

Titel: Flagge im Sturm
Autoren: Mirinda Jarrett
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es war ihm auch gleichgültig. Zum Teufel, was hatte er nur gestern Abend getrunken? Es kam ihm jetzt vor, als trüge er einen toten Iltis im Mund, und dessen sämtliche Ahnen hätten sich zur Trauerfeier in seinem Kopf versammelt.
    Die Frau legte ein nasses Tuch über seine geschlossenen Augen. „Es würde auch ein wenig eigenartig sein, wenn es nicht so wäre“, sagte sie, als hätte er ihre Frage beantwortet. „Seit zwei Wochen liegt Ihr hier, und während der ganzen Zeit habe ich Euch immer nur mit Jonathan angeredet. Der Name passt auch zu Euch, denke ich.“
    Wie ein Schlag traf ihn die volle Bedeutung ihrer Worte. „Zwei Wochen?“ Seine Stimme überschlug sich, sie schien eingerostet zu sein. Der Frau stockte hörbar der Atem. Offenkundig hatte sie keine Erwiderung erwartet.
    „Jawohl.“ Sie sprach jetzt recht gestelzt. „Ihr lagt sehr darnieder, und nur durch Gottes Gnade seid Ihr der Macht des Bösen entronnen.“
    Dass sie sich so eigentümlich ausdrückte, verwirrte ihn noch mehr. Wie konnte es angehen, dass er zwei Wochen, an die er sich nicht im Geringsten erinnerte, im Bett einer Frau verbracht hatte, die jetzt redete wie ein Priester bei der Sonntagspredigt? Er wollte sich zu ihr umdrehen, doch ein fürchterlicher Schmerz schoss durch sein Bein. Das unerträgliche Wirbeln setzte wieder ein und verursachte ihm Übelkeit. Er stöhnte laut auf.
    „Jetzt trinkt dies erst einmal.“ Ohne dass er dagegen protestierte, hob die Frau seinen Kopf an und flößte ihm etwas Dickflüssiges ein, das nach bitterem Honig schmeckte. Schon nach wenigen Momenten legte sich das Schwindelgefühl. Er merkte, dass er sich entspannte und in einen angenehmen Zustand des Wohlbefindens hinüberglitt.
    Demaris lehnte sich zurück. Sie war froh, dass sie den Heiltrank schon gestern Abend angesetzt hatte. Nachdem das Fieber des Mannes gebrochen war und wirklicher Schlaf das Delirium abgelöst hatte, musste dieser Augenblick des Erwachens ja einmal kommen. Ihr war bewusst, dass sie für die wundersame Genesung dankbar sein sollte. Sie vermochte sich indessen nicht dazu durchzuringen.
    Zwei Wochen hatte dieser Mann ihr gehört. Sie hatte ihn pflegen und für ihn sorgen können. Sie kannte jetzt jeden Zoll seines Körpers, denn sie hatte ihn immer wieder feucht abgerieben, um das Fieber zu senken.
    Besorgt hatte sie beobachtet, wie die Krankheit an seinen Kräften zehrte. Er war dünner geworden, seine Brust und Rückenmuskeln traten jetzt noch deutlicher hervor. Seinen schwarzen Bart hatte sie wachsen sehen, der jetzt die Wangen und das Kinn bedeckte, und sie hatte zugehört, wenn der Fiebernde Segelkommandos und Namen ihr unbekannter Personen rief.
    In seiner Bewusstlosigkeit war er nur ein Mensch gewesen, der ihrer bedurfte, jemand, dem sie in der Stille ihres Hauses etwas erzählen konnte. Im wachen Zustand indessen war er ein Mann, und zwar ein sehr großer aus Fleisch und Blut, dessen Anwesenheit ihr ganz bestimmt nichts anderes
    als Schwierigkeiten bringen konnte.
    „Also schmerzt Euch Euer Kopf auch, ja?“ Sie rieb mit dem Daumen über den Rand des jetzt leeren Bechers in ihren Händen.
    „Ja, das tut er. Zumindest tat er es, bevor Ihr mir diesen Zaubertrank verabreichtet.“ Er kämpfte gegen die schläfrige Benommenheit an und wollte unbedingt die Augen öffnen, wenn auch nur einen Moment. Er musste doch schließlich wissen, wie die Frau aussah.
    „Ich dachte mir, wenn Ihr das Fieber erst einmal überwunden habt und wenn das Gift Euer Bein verlassen hat... “
    „Es ist schon beinahe fünf Jahre her, seit ich mir das Bein gebrochen habe, weil ich den verdammten Affen des Jungen aus den Wanten gejagt habe“, fiel Jonathan ihr ärgerlich ins Wort. „Und wenn ich mir dabei irgendein Gift aufgeladen hätte, wäre ich längst tot.“
    Er wollte sich aufsetzen, und schon kehrte der Schmerz zurück, so frisch und scharf wie an jenem Tag, als das Tau gerissen und er selbst aus zwanzig Fuß Höhe aufs Deck gestürzt war. Das war doch verrückt, vollkommen verrückt! Leise fluchend tastete er zu seinem Bein hinunter und fühlte die Leinenbinde um seinen Oberschenkel. Und dabei hätte er sein Leben verwettet, dass die Geschichte bereits vor fünf Jahren passiert war! Allerdings war da damals keine Frau mit weicher, verführerischer Stimme gewesen.
    Er riss den feuchten Lappen fort, der über seinen Augen lag, und war fest entschlossen, sich zu erheben. Er stützte die Arme auf die schmale Pritsche, doch schon diese
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