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Feuersteins Drittes

Feuersteins Drittes

Titel: Feuersteins Drittes
Autoren: Herbert Feuerstein
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East River gilt als extraterritorial und gehört damit weder zu New York noch zu den Vereinigten Staaten.
    Feierlich durfte ich Hand anlegen, als die deutsche Fahne 40 hochgezogen wurde — übrigens um einiges später als die österreichische, denn mein altes Heimatland ist ja schon seit 1955 UNO-Mitglied, Deutschland aber erst seit dem 18. September 1973. Vorher hatten das damalige Westdeutschland und die DDR nur Beobachter-Status, Zaungäste gewissermaßen, auf die wir richtige Weltenbürger zu meiner New Yorker Zeit immer ein wenig mitleidig heruntergeblickt hatten.
    Nach dem Fahnenakt drehten wir ein bisschen hinter den Kulissen, wo es übrigens genauso schäbig und ernüchternd aus sieht wie im Nobelhotel, wenn man die falsche Tür öffnet und die Geheimgänge für Personal und Lieferanten betritt: winzige, überladene Büros, ständiges Gedränge, Stimmengewirr in tausend Sprachen und ein Tagesverbrauch von sechs Tonnen Papier.
    Zuletzt betraten wir das Allerheiligste, den Plenarsaal der Vollversammlung. Gerade hatte die zweistündige Sitzungspause begonnen, der Saal war leer, und wir durften uns frei darin bewegen. Ich inspizierte den Platz des deutschen UNO-Botschafters, drückte zur Probeabstimmung auf Knöpfe — grün für »Ja«, rot für »Nein« — und suchte vergeblich unter dem Pult nach Hinweisen auf die Richtung der künftigen deutschen Außenpolitik. Dann schritt ich ans Rednerpult.
    Menschen wie ich, die Gefühle verdrängen, tun dies gewöhnlich aus Notwehr: damit sie von ihnen nicht überwältigt werden. Hier, an diesem Rednerpult, an der Schnittstelle von Hoffnung und Elend, die Welt mit den Namenstafeln von 185 Ländern vor den Augen, war diese Abwehr besonders schwer. Auch wenn Stefan, der Kameramann, wieder mal Türrahmen rammte, Stefan, der Tonmann, das Mikro nicht fand und Wolpers im Hintergrund wild gestikulierte, ohne dass ich die geringste Ahnung hatte, was er mir damit sagen wollte. Verzeihen Sie bitte deshalb diesen Anfall von Sentimentalität, er geht gleich vorüber, wir sind ja ohnehin schon fast auf der letzten Seite. Gefühle dieser Art packen mich immer dann, wenn ich mich eigentlich freuen sollte: beim ersten Mal auf einer neuen Bühne, beim neuen Buch, bei einer Preisverleihung oder wenn sonst jemand meint, ich hätte was Besonderes geleistet; oft überfallen sie mich auch ganz unerwartet bei Begegnungen mit der Kunst oder einer besonderen Landschaft, und manchmal kommen sie völlig grundlos wie eben jetzt, beim Gedankenspiel vor dem Rednerpult der Welt: Wie viele Weichen das Leben doch enthält, wie viele Wege, die man hätte gehen können... und alle münden sie in die große Leere, aus der das Universum besteht.
    Vielleicht wäre ich Musiker geworden, ein kühler Theoretiker wahrscheinlich, der seine mangelnde Begabung mit Verbissenheit kaschiert; oder ein intriganter Festspielpräsident, der der Kunst dient, aber immer nur auf Kosten der anderen; vielleicht auch ein typisch österreichischer Autor, der Land und Leute hasst und dafür Staatspreise kassiert; vielleicht ein Diplomat, der vom Botschafterposten in Brasilien träumt, aber Vizekonsul in Burkina Faso wird, oder ein ARD-Korrespondent mit Berufung zum Intendanten, aber dem falschen Parteibuch. Hätte ich das alles wirklich gewollt? War ich nicht erfüllter in den Fantasieberufen meiner Fernsehsendungen, die zwar nur Minuten währten, aber dafür nicht im lebenslangen Frust endeten? Als Spartacus, dem größten Stuntman der Welt. Superstein, Retter der Hausfrau. Als vom Aussterben bedrohte Zwergbrillenratte. Und jetzt als UNO-Generalsekretär...
    Für den New-York-Film wollte ich in der Generalversammlung eine kurze Rede halten. Eigentlich nur drei Wörter, simultan übersetzt in die sechs offiziellen UNO-Sprachen Englisch, Französisch, Spanisch, Arabisch, Russisch und Chinesisch. Die Dolmetscher oben in ihren Kabinen waren eingeweiht und hatten Spaß daran, mitzumachen. Und so trat ich ans Rednerpult, vor die gesamte Menschheit.
    »Seid nett zueinander«, sagte ich, und aus dem Lautsprecher drangen die Phoneme gleicher Bedeutung in sechs Sprachen.
    Ja, genau das hätte ich auch als richtiger Generalsekretär gesagt. Natürlich würde es nichts nützen. Aber wenigstens hätte ich ein tolles Büro ganz oben auf dem UNO-Turm mit gigantischem Blick auf meine Stadt.

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