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Feuersteins Drittes

Feuersteins Drittes

Titel: Feuersteins Drittes
Autoren: Herbert Feuerstein
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schief gehen). Wir wurden belehrt, dass dieses Manöver demnächst noch einmal stattfinden würde, unangekündigt auf hoher See, und erfuhren außerdem, dass wir uns im Falle starker Rauchentwicklung mit den Händen auf der Schulter des Vordermannes durch die Gänge tasten sollten. Ich sah mich um, fand aber niemand Begrapschenswerten und beschloss deshalb, lieber zu sterben als jemanden anzufassen, für den Fall, dass meine Frau mich nicht finden und retten würde. Aber so was denkt sich leicht, wenn die Piermauern nur zwei Meter entfernt sind... Wer weiß, wie man sich aufführt, wenn es ernst wird. Dumm, dass die großen Schiffskatastrophen so selten im Hafen stattfinden.
    Jubelnde Mengen am Pier, schmetternde Blasmusik, so kennt man das Ablegen aus dem »Titanic«-Film. Bei uns winkten zwar nur neun Leute, darunter die beiden Netten von der Agentur, aber immerhin: Weil es der 4. Juli war, der amerikanische Nationalfeiertag, spielte unsere polnische Bord-Combo nach dem dreimaligen, mächtigen Grunzen des Nebelhorns die US-Hymne, und es ging los. Mir war feierlich zu Mute, und auch ein bisschen mulmig. Ob wir wieder heil zurückkommen würden? 1 Aber dieses Gefühl habe ich eigentlich immer. Sogar beim Einsteigen in die Straßenbahn.

    LOGBUCH 6. JULI
    Edinburgh. 15°, leicht bewölkt; Barometer 1015 (steigend)
    Sonnenaufgang 4:36, Sonnenuntergang 21:59

    Gerade sind wir vom ersten Landgang zurückgekommen, vom schönsten Landgang der Welt, zufällig in Edinburgh, hätte aber auch Sibirien sein können oder die Wüste Gobi, hauptsächlich LAND-Gang. Denn die zwölf Stunden davor war ich seekrank gewesen, zum ersten Mal wieder seit fast dreißig Jahren.
    Damals war ich auf der Frachtfähre von Neapel nach Stromboli unterwegs gewesen, dem einzig sinnvollen Verkehrsmittel jener Zeit, wenn man nicht umständlich über Sizilien und die Liparischen Inseln anreisen wollte. Ich hatte die etwa zehn Stunden dauernde Überfahrt schon vorher ein paar Mal unternommen und wusste, dass es mir wieder dreckig gehen würde, das gehörte eben fest zu dieser Route dazu — jedenfalls DACHTE ich damals, dass diese Mischung aus Übelkeit und Ekel »Seekrankheit« war. Erst auf der letzten Reise nach Stromboli erfuhr ich, wie sich Seekrankheit WIRKLICH anfühlt.
    Schon bei der Ausfahrt aus Neapel peitschte uns ein Regensturm entgegen, der jeden Aufenthalt auf Deck unmöglich machte, und auf dem offenen Meer tobte zusätzlich ein Gewitter, dessen gewaltige Sturmwogen jenes merkwürdige Phänomen auslöst, das physikalisch gesehen unmöglich ist, aber trotzdem genau so stattfindet: Der Körper hebt sich mit jeder Welle, aber der Magen bleibt unten. Und dann senkt sich der Körper wieder, aber der Magen schwebt nach oben. Ein paar tausend Mal. Man wolle »nur noch sterben«, schildern die meisten diesen Zustand, aber bei mir ist es schlimmer: Da mein Todestrieb ausgeprägt ist und ich auch schon bei minderen Anlässen wie voll besetzten Parkgaragen oder Mücken im Schlafzimmer sterben will, fehlt mir diese Finalität als Zuflucht in der echten Krise. Es müsste daher weit mehr als nur ein Tod sein, um diesem Elend wenigstens gedanklich zu entkommen, hundert Tode vielleicht, oder nie geboren zu sein, nicht einmal abgetrieben. Am besten, das Universum würde gar nicht existieren, samt Urknall.
    Jawohl, damals war ich wirklich seekrank. Ich lag auf dem Boden der Kabine, weil man da unten nicht mehr aus dem Bett fallen kann, und kotzte rhythmische Fontänen nach dem Vorbild der Wale.
    Diesmal war es bei weitem nicht so schlimm. Aber schlimm genug. Und vor allem peinlich. Denn die Seekrankheit begann schon beim ersten Gala-Abendessen unserer Reise. Beim Captain’s Dinner.
    Zwei Abendessen liegen jetzt bereits hinter uns, und damit zwei von insgesamt drei verschiedenen Arten der Modenschau, an denen man auf einer gepflegten Schiffsreise mitmachen muss: leger, informell und formell. »Leger« bedeutet genau das, was es heißt, also Alltagsklamotten oder gehobenes Touristen-Outfit, und kommt eigentlich nur vor, wenn die Zeit für Auspacken und kosmetische Restaurierung nicht mehr ausreicht... also vorgestern zum Beispiel, weil es ja schon 18 Uhr war, als wir ablegten, oder an Tagen mit extralangen Landausflügen. »Informell«, die zweite Stufe, zwingt den Herrn in Anzug mit Krawatte und die Dame ins kleine Schwarze mit Perlen oder in süße Torheiten für Mädchen um die zwanzig, getragen von Frauen über siebzig.
    Gestern war die höchste Stufe
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