Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Feuer: Roman (German Edition)

Feuer: Roman (German Edition)

Titel: Feuer: Roman (German Edition)
Autoren: Wolfgang Hohlbein
Vom Netzwerk:
heruntergeschlagen.
    »Komm vom Fenster weg.«
    Es war die tiefe Stimme seines Vaters, die plötzlich von der Tür aus ertönte, die Stimme, die ihm bis vor wenigen Tagen noch unbedingtes Vertrauen eingeflösst hatte. Bis sein Vater das getan hatte, was ihn zu humpeln zwang und in den ersten Tagen bei jedem Schritt einen scharfen Schmerz durch sein Bein jagte. Wieder war das Scharren am Fenster zu hören, und obwohl es klang, als sei eines der Wesen aus den Geschichten seines Vaters auf einmal lebendig geworden, streckte er die Hand in plötzlich aufflackerndem Trotz nach dem Fenstergriff aus und drehte ihn um.
    »Komm da WEG!« Jetzt schrie sein Vater. Er hatte ihn noch nie so schreien hören.
    Und er hatte noch nie gesehen, was er jetzt in dem vom Wind gepeitschten Fenster vor sich sah. Es war ein Gesicht. Nicht seitlich, dort wo sich das Fenster einen schmalen Spalt weit geöffnet hatte, sondern direkt vor ihm, in der Scheibe, oder beinahe so, als würde es aus dem Glas hinaus und auf ihn zuwachsen.
    Es war ein Gesicht, wie er es noch nie zuvor gesehen hatte, halb Mensch und halb Tier, und sein Mund – sein Maul! – verzog sich zu einem wölfischen Lächeln. So, wie die Regentropfen an der Scheibe hinabliefen, schien auch sein Gesicht wegzulaufen, und doch sah er es ganz deutlich vor sich.
    Er schlug die Hand vor den Mund, um einen Schrei zu ersticken; er war ganz sicher, dass etwas Schreckliches passieren würde, würde er schreien.
    Der Wolfsgesichtige schien ihn direkt anzusehen. In seinen Augen funkelte ein gieriges Feuer. Der Junge versuchte die Hand zu heben, um das Fenster mit einem verzweifelten Schwung wieder zuzuschlagen, doch sie hing wie gelähmt an ihm herunter. Für den Bruchteil einer Sekunde fror das Bild des Gesichts an der Scheibe fest, wie durch plötzlichen Frost am Zerfließen gehindert, und in diesem Bruchteil einer Sekunde, während der Junge noch auf das Spiegelbild im Glas starrte, als ob es sich nicht von der Stelle bewegt hätte, musste die Gestalt mit einer geschmeidigen – wölfischen? – Bewegung ins Zimmer eingedrungen sein.
    »Komm da weg!«, hörte er noch einmal die Stimme seines Vaters schreien und fühlte sich plötzlich weggerissen, ob von dem Wolfsgesichtigen oder seinem Vater wusste er nicht. In Panik schlug er wild um sich, und zwischen den ruckartigen Bewegungen seiner Arme sah er schlaglichtartig Bruchstücke des Zimmers vor seinen Augen zucken, die von den immer wieder hell aufleuchtenden Blitzen in einer seltsamen, unnatürlichen Abfolge von Bildfetzen an ihm vorbeirasten. Gierige Hände zerrten an ihm und schüttelten ihn durch, dann klatschten harte Schläge, und er wurde zurückgeschleudert, vollkommen orientierungslos, während entstellte Fratzen an ihm vorbeischossen, das vor Wut und Angst verzerrte Gesicht seines Vaters, das Gebiss des Wolfsgesichtigen, und ehe er noch begriff, wie ihm geschah, kam er mit einem plötzlichen Ruck frei.
    Er zögerte nicht einen Augenblick, stieß sich ab, fand nur mit Mühe sein Gleichgewicht und taumelte durch die plötzlich überall vom Boden heraufzüngelnden Flammen in die erstbeste Richtung. In seinem Kopf war ein einziges Chaos. Alles, was er denken konnte, war, dass der Wolfsgesichtige gekommen war, um ihn zu holen, mitzunehmen durch das vom Sturm aufgerissene Fenster in sein finsteres Reich.
    »Komm jetzt!« Das war sein Vater. Er riss ihn hoch und schleifte ihn mit sich quer durchs Zimmer, durch den Ausgang hindurch, wirbelte noch in der Bewegung herum und trat mit aller Kraft gegen die mächtige Eisentür, die abkatapultierte, als bestünde sie nur aus leichtem Holz, und schon einen Augenblick später krachend in den Rahmen knallte und sich verschloss. Auf der anderen Seite schlug etwas mit einem dumpfen Aufprall gegen die Tür, und voll ungläubigen Entsetzens sah er, dass das Eisenblatt erzitterte, als hätte Thor persönlich seinen Hammer dagegenkrachen lassen. Wieder und wieder erbebte das stabile Eisen, und durch den Tränenschleier vor seinen Augen erkannte er das bleiche Gesicht seines Vaters, als dieser sich zur Tür umwandte und mit fliegenden Fingern große schwere Riegel vorlegte.
    Auf der anderen Seite der Tür entlud sich etwas mit wilder Wut, als fände ein Kampf auf Leben und Tod statt, und vielleicht war es genau das, was dort gerade wirklich geschah: Die Flammen, die vorhin nur am Boden entlanggezüngelt waren wie gierige kleine Schlangen, waren in unglaublicher Geschwindigkeit gewachsen und leckten nun
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher