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Feuer: Roman (German Edition)

Feuer: Roman (German Edition)

Titel: Feuer: Roman (German Edition)
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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dem Drachentisch mit den Beinen, die so lebendig wirkten. Lindwurmbeine nannte er sie, oder auch Drachenbeine. Sie wanden sich schlangengleich nach oben, und ihre Gesichter, auf denen die Tischplatte ruhte, befanden sich auf gleicher Höhe wie sein eigenes. Er hatte nie geglaubt, dass sie lediglich aus Holz bestanden und nur die wurmstichige Holzplatte des Tisches trugen, wie ihm sein Vater einzureden versucht hatte. Ihre schwarz-braun-roten Körper, das Muster, das sich über sie zog, ihre nach oben gereckten Köpfe mit den tückischen Augen, all das kündete von einer Lebendigkeit, die mindestens ebenso real war wie das Wüten des Sturmes. Auf einen flüchtigen Blick sahen sie aus wie Flammen, die aus dem Boden hervorschossen und nach oben züngelten. Nur wenn man genauer hinsah – und er hatte schon sehr oft genau hingesehen! –, sah man überhaupt, dass es sich um gewundene Drachenkörper handelte.
    Als es donnerte und ein gezackter Blitz das Zimmer erhellte, ging ein Huschen und Gleiten über den Körper des Drachen, der ihm am nächsten war, als spanne er sich zum Sprung. Er hatte das Gefühl, dass sich der Lindwurm reckte und wand, dass er im Begriff war, sich von seinem angestammten Platz zu lösen und in plötzlicher Wut nach der Tischplatte zu züngeln. Er stieß einen Schrei aus, torkelte zwei, drei Schritte zurück und riss abwehrend die Hände nach oben. Wieder zerriss ein Blitz den Himmel, und diesmal war es viel schlimmer als zuvor; Donner und Licht waren fast eins, und der Knall so laut, als hätte jemand mit unglaublicher Wucht einen Hammer auf das Dach des Hauses geschlagen. Die Verästelungen des Blitzes trafen den Drachen genau in dem Sekundenbruchteil, in dem der Donner durch das Zimmer tobte; nicht wirklich, sondern nur mit dem Ausläufer gleißender Helligkeit, und doch kniff er instinktiv die Augen zusammen. Als er sie zitternd wieder aufriss, erstrahlte das Zimmer in einem merkwürdig milchigen, leicht bläulichen Glanz.
    Er ließ die Hände sinken, und sein Blick wanderte zum Fenster. Irgendetwas war da draußen, er spürte es und glaubte es auch zu sehen, einen Schatten, der weghuschte, kaum dass er von seinen Blicken gestreift wurde … Er erschrak, vielleicht, weil er darauf gefasst war, dass sich die Wölfe und sagenhaften Ungeheuer aus den Geschichten seines Vaters vor dem Fenster zusammengerottet hatten, um ihn in ihr dunkles Reich zu zerren.
    Für die Dauer von ein paar wild hämmernden Herzschlägen stand er zitternd da, dann setzte er sich in Bewegung und humpelte auf das Fenster zu.
    Die beschlagene, von Regentropfen benetzte Scheibe war ihm schon immer wie die Öffnung zu einer fremden Welt erschienen, und diesmal verstärkte sich der Eindruck noch. Er war sich ganz sicher, wenn er das Fenster aufreißen würde, um hinauszublicken, würde dort nicht der Garten sein, in dem er bei schönem Wetter spielte, sondern etwas ganz anderes. Der Wind heulte um das Haus, als wäre er ein lebendiges Wesen, das gekommen war, ihn zu holen, und dann klatschte eine Böe den Regen mit solcher Wucht gegen die Scheibe, dass es klang, als würde das Glas jeden Moment splittern. Blitze und Donner tobten, wie von Thor mit seinem Hammer selbst geschleudert, von dem ihm sein Vater immer und immer wieder erzählt hatte, der nie sein Ziel verfehlte und nach jedem Wurf wie von selbst in die Hand des Donnergottes zurückkehrte.
    Er stieß mit dem Knie gegen den hölzernen Drachen, und durch die wunde Stelle über seinem Knöchel schoss ein scharfer Schmerz, der ihn fast einknicken ließ. Seine Hand angelte Halt suchend nach oben, zum Drachentisch, auf dem die alten Karten lagen, vergilbt, eingerissen und so brüchig, dass er sie bislang nicht anzufassen gewagt hatte vor Furcht, sie könnten ihm unter den Fingern zerbröseln; Karten mit den Zeichnungen alter Höhlen und dunkler Gänge, die sich tief unter der Erde in den Drachenhort bohrten. Wieder donnerte es, und ein Blitz fuhr herab, gezackt und verästelt und wie genau auf ihn gezielt, als er das Fenster erreichte.
    Da war irgendetwas. Inmitten des heulenden Sturms und der gegen die Scheibe prasselnden Tropfen hörte er ein anderes Geräusch, ein Kratzen am Holz des Rahmens, das klang, als begehre dort etwas unglaublich Mächtiges Einlass, dem er nicht widerstehen konnte. Er streckte die Hand aus, um nach dem Fenstergriff in greifen, und zuckte im selben Moment zurück. Die Hand, die er schon ausgestreckt hatte, fiel herab, als hätte sie jemand
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