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Fern wie Sommerwind

Fern wie Sommerwind

Titel: Fern wie Sommerwind
Autoren: Patrycja Spychalski
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Irmis Schmuckkiste gefunden habe. Zur Erinnerung an das Meer.
    Der Pfarrer stimmt noch ein Lied an, dann geht jeder seines Weges. Ich lade Heinrich ein, mit uns in die Pizzeria zu gehen für das Trauermahl. Überraschenderweise nimmt er an.
    Als wir dann da sitzen, an unserem Stammtisch, sagt niemand ein Wort. Alle hängen ihren eigenen Gedanken nach. Mich tröstet es trotzdem, gemeinsam hier zu sein. Dario setzt sich zu uns und bringt auf einem Tablett für jeden einen Schnaps.
    »Ich war schon bei einigen Beerdigungen, aber Pizza als Leichenschmaus, das ist das erste Mal«, sagt Heinrich, und da ist der Anflug eines Lächelns zu sehen. »Auf Irmi!«
    Irmis Haus ist merkwürdig leer. Ich mache vor dem Schlafengehen einen Rundgang durch die Zimmer. Die meisten Sachen wurden schon abgeholt. Die vom Roten Kreuz waren nett und haben sich bedankt und gesagt, wie sehr es ihnen leidtut. Ich hatte keine Lust zu erklären, dass ich gar nicht die Enkelin bin.
    Heinrich hat auch noch ein paar Dinge mitgenommen. Vor allem Papierkram. Er saß längere Zeit in Irmis Schlafzimmer und hat von dort eine Tüte mitgenommen. Ich wollte nicht fragen, was. Es geht mich auch nichts an.
    Es hat nicht lange gedauert, ein ganzes Leben zusammenzupacken. Bald kommen ein paar Leute, die sich um alles Weitere kümmern wollen. Ich habe nicht recht verstanden, was das für Leute sind. Der Pfarrer und Heinrich haben alles geregelt. Ich darf noch bis Ende der Sommerferien hierbleiben, niemand hatte etwas dagegen.
    Ich öffne die Tür zum Keller und warte ein paar Sekunden, bis das flackernde Licht endlich angeht. Es riecht muffig wie die meisten Keller und ich habe sofort Staub in der Nase. Um den Keller kümmern sich die Leute von der Entrümpelung, hatte Heinrich gesagt. Ich will trotzdem mal einen Blick reinwerfen. Ein kaputter Stuhl, Obstkonserven und eingelegte Gurken, Stapel von Zeitschriften und Strickmustern, ein verstaubter, zusammengerollter Teppich. Das alles wird auf den Müll wandern.
    In einer Ecke entdecke ich einen Schuhkarton und hebe den Deckel hoch. Drin sind einige Fotos und ein Stapel Briefe. Ich nehme ein paar Bilder raus und sehe sie mir an. Eine junge Frau in einem hochgeschlossenen Kleid, die an einem Baum lehnt und in die Kamera lächelt. Auf dem anderen Bild dieselbe Frau, die mit zusammengekniffenen Augen in einen Apfel beißt. Ist das Irmi? Das Kellerlicht lässt mich das Gesicht nicht gut erkennen, aber auch sonst muss das Bild schon so alt sein, dass ich sowieso keine Ähnlichkeit feststellen könnte. Das ist so wie mit den Bildern von meiner Oma. Die Menschen verändern sich im Laufe ihres Lebens. Ich fische mir einen Brief aus dem Stapel und nehme das zerschlissene Blatt aus dem Umschlag.
    Liebe Irmgard,
    darf ich Dich eigentlich Irmi nennen? Das geht mir schon seit Tagen im Kopf herum, dass dieser Name viel besser zu Dir passt. Die kleine Irmi. Ich stelle mir vor, wie Du damals in einem roten Kleid auf dem Spielplatz herumgeturnt bist. Deine Mutter hatte Dich gut im Auge behalten müssen, weil Du sonst vor lauter Übermut auf sämtliche Zäune geklettert wärst und Dir Löcher in Deine Strümpfe gerissen hättest …
    Ich falte das Blatt wieder zusammen, mein Herz klopft schneller und ich traue mich nicht weiterzulesen. Heute war doch erst ihre Beerdigung und jetzt stöbere ich hier womöglich in ihren Geheimnissen rum. Ich stecke den Brief wieder in seinen Umschlag, lege ihn in den Karton und schließe den Deckel. Den Karton nehme ich aber nach oben in mein Zimmer und stelle ihn auf dem Tisch ab. Lange sitze ich davor und überlege, was ich damit machen soll. Den Leuten, die hier aufräumen werden, soll er auf keinen Fall in die Hände fallen. Ich könnte ihn Heinrich geben, aber eigentlich weiß ich auch von ihm nichts, und wer weiß was das für Briefe sind. Vielleicht sind sie von ihm, aber vielleicht könnten sie sein ganzes Bild von Irmi zerstören oder sonst etwas in der Art. Ich könnte alles hinten im Garten verbrennen, weiß aber schon, dass ich das niemals übers Herz bringen könnte. Nach langem Hin und Her beschließe ich, den Karton mitzunehmen, wenn ich nach Hause fahre. Ich kann ein wenig Zeit verstreichen lassen und mir dann überlegen, ob ich die Briefe lesen werde. Möglicherweise steckt da eine wundervolle Geschichte drin. So eine, wie ich sie gerne zusammen mit Irmi geschrieben hätte. Von den alten Zeiten. Davon wie aus Irmgard Irmi wurde. Ich bin schrecklich neugierig darauf. Ich weiß nicht,
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