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Fern wie Sommerwind

Fern wie Sommerwind

Titel: Fern wie Sommerwind
Autoren: Patrycja Spychalski
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überzeugt, dass ihnen die Zeit davonrennt. Wie konnte das sein?
    Am Horizont sehe ich Martin laufen. Er hat tatsächlich meinen Drachen am Rucksack festgemacht. Das ist so schön, dass mir die Tränen in die Augen steigen. Gleichzeitig muss ich lächeln.
    Danke Martin. Für Drachen tragen. Für da sein, in Irmis einsamem Haus. Für überhaupt da sein. Für Wunderöl und Zeichnungen von Rollstuhlkindern. Für das erste Mal am Strand.
    Ich blicke ihm nach, wie er beschwingt über den Strand läuft, als würde der Drache ihn mit sich ziehen, und ich kann schon wieder gar nicht glauben, dass er mein Freund ist.
    Schließlich spaziere ich langsam zurück zu Irmis Haus und rufe meine Mutter an. Ihre Stimme kommt mir fremd vor, aber ich bin froh, sie zu hören. Ich erzähle ihr von all den Dingen, die in den wenigen Wochen hier passiert sind, und Mama hört zu und unterbricht mich kaum. Ich erzähle von Darios Pizza und von den vielen Kilometern, die ich täglich am Strand zurücklege, von meinen neuen Freunden, von Martin und schließlich auch von Irmi. Mama ist geschockt.
    »Soll ich vorbeikommen? Ich könnte mich heute noch in den Zug setzen.« Aber ich lehne ab. Nicht weil ich sie nicht sehen möchte, sondern weil ich das Gefühl habe, das alles hier ganz alleine zu Ende bringen zu müssen.
    »Du wirst vielleicht lachen, aber irgendwie hat das mit Erwachsenwerden zu tun«, sage ich.
    Mama lacht nicht. »Das Haus ist leer ohne dich.«, sagt sie aber, und das ist viel für Mama – sie sagt selten solche Dinge.
    »Ich bin bald wieder da«, verspreche ich ihr, und sie schlägt vor, mich vom Zug abzuholen.
    Ich freue mich darauf. Vielleicht setzen wir beide uns dann in ein Bahnhofs-Café und reden noch einmal richtig, von Angesicht zu Angesicht. Vielleicht schaffen wir es auch, alte Probleme hinter uns zu lassen, und fangen noch mal von vorne an. Manchmal sind solche Sachen möglich. Ich lege den schweren Hörer auf Irmis altem Telefon ab und bin zufrieden – mit mir selbst, weil ich angerufen habe, und mit Mama, weil sie mich ernst genommen hat. Es war gut, dass ich ihr den Brief geschickt habe.
    Ich koche mir einen Irmi-Eso-Tee und setze mich mit meiner Lieblings-Blümchentasse an den Küchentisch, ich spiele mit Irmis Armband und warte auf Martin.

DIE NÄCHSTEN DREI Tage sind seltsam, die Stunden reihen sich aneinander, mal schnell, dann wieder langsam. Der Alltag kehrt ein. Nicht ganz vielleicht, weil ich mittendrin immer wieder an Irmis Tod denken muss und ich dann ein schlechtes Gewissen habe. Darf ich überhaupt lachen, mich freuen, Martin küssen und mit meinen Freunden herumalbern, nachdem so etwas Trauriges passiert ist?
    Ich besuche noch einmal den Pfarrer in der Kirche.
    »Der Tod gehört zum Leben, das muss schon so sein.«
    Dass das so sein muss, kann ich nicht gut finden, aber schließlich werde ich nicht nach meiner Meinung gefragt. Er redet noch ein bisschen von Trauer. Er glaubt, dass Irmi bestimmt gewollt hätte, dass man zwar an sie denkt, aber auch dass man sein Leben weiterlebt, und da dürfe man auch fröhlich sein. Es sind Sätze, wie man sie kennt, aus Büchern und aus Erzählungen von anderen. Und dadurch wirkt das in meinen Ohren abgedroschen. Andererseits ist das vielleicht wirklich die einzige vernünftige Sichtweise.
    Also versuche ich es wieder mit dem Lächeln.
    »Das Leben ist dämlich. Aber wenn das schon so ist, müssen wir das Beste draus machen.« Das ist, was Rocco dazu zu sagen hat. Na ja.
    Irmis Beerdigung findet am frühen Vormittag statt, wo die Sonne noch nicht so vom Himmel runterbrennt. Ich bin erstaunt über die vielen schwarz gekleideten Leute, die gekommen sind, um Irmi die letzte Ehre zu erweisen. Der Pfarrer und Heinrich, Ruth, James, Rocco und Martin, Max mit Frau und Kind, der Mann vom Gemüsestand, die Frau von der Fischräucherei, die Nachbarin mit ihrer Familie, Dario und das restliche Pizzeriapersonal, selbst die Bockwurstjungs, und noch ein paar Dutzend anderer Menschen, die ich noch nie gesehen habe.
    Der Pfarrer liest aus der Bibel und danach singt er ein paar traurige Verse. Die meisten sehen zu Boden, einige halten die Augen geschlossen und Heinrich weint, ganz still laufen die Tränen an seinen Wangen hinab. Ich muss wegsehen, sonst fange ich auch noch zu weinen an. Ich habe in den letzten Tagen genug geweint.
    Wir werfen alle eine Handvoll Erde auf den hölzernen Sarg, einer nach dem anderen, und ich werfe noch eine Bernsteinkette mit in die Grube, die ich in
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