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Fern wie Sommerwind

Fern wie Sommerwind

Titel: Fern wie Sommerwind
Autoren: Patrycja Spychalski
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eigentlich fremd war. Ein wenig möchte ich später auch so wie Irmi sein. Nicht so einsam, aber voller schöner Erinnerungen. Mit leuchtenden Augen und lachenden Falten und tausend Geschichten aus der alten Zeit. Ich hätte sie gerne noch so viele Dinge gefragt. Ich hätte gerne ihre Geschichten aufgeschrieben. Ich hatte mir das still und heimlich schon so ausgemalt, dass ich sie öfter besuchen werde, so wie man die eigene Oma besucht. Dass wir beide Strandspaziergänge machen und Musik hören und Kuchen backen und Karten spielen. Begleitet vom ständigen Rauschen des Meeres.
    Als die Mittagssonne schon hoch steht, raffe ich mich endlich vom Boden auf, koche einen Tee und räume Irmis Schränke auf. Ich hole die Anziehsachen heraus, nehme sie vom Bügel und falte sie ordentlich, so wie meine Mutter mir das beigebracht hat. Einen Stapel für die Kleider, einen für die Röcke, einen für Pullover und Blusen.
    Die Unterwäsche und Strumpfhosen stopfe ich in eine große Tüte und bringe sie raus zum Müllcontainer. Ich hoffe, dass die Nachbarin nicht in ihrem Garten ist und mich sieht. Ich weiß immer noch nicht, was ich sagen könnte. Aber ich habe Glück, keine Nachbarin weit und breit. Ein Teil von Irmi wird bald von der Müllabfuhr abgeholt. Das ist wirklich das Schrecklichste von allem. Kurz nimmt mir das den Atem, und ich spiele mit dem Gedanken, die Tüte wieder aus der Tonne zu fischen, aber dann besinne ich mich. Wo soll das Zeug schon hin? So ist das eben mit Unterwäsche. Tot oder nicht, keiner trägt einem die Unterhosen auf.
    Ich renne wieder zurück ins Haus, sehe dort überall nach, in Schubladen und sämtlichen Schränken, und räume alles raus, was das Rote Kreuz gebrauchen könnte. Irmi hat so viel unbenutztes Geschirr, verpackte Bettwäsche, in Folie eingeschweißte Seifen und ungeöffnete Pralinen, die allerdings vor fünf Jahren schon abgelaufen sind. In einem Schrank finde ich eine alte Holztruhe mit Schnitzereien drauf. Ich öffne sie vorsichtig und schaue hinein. Tabletten, Batterien, Postkarten und Schmuck. Ich ziehe die Ketten und Armbänder raus und lege sie mir um den Arm. Ein Armband sticht besonders hervor. Es ist eins mit kleinen roten Steinen – welche das sind, weiß ich nicht genau, ich kenne mich damit nicht aus. Meine Mutter könnte das schon eher sagen. Sie funkeln von allen Seiten, und wenn man sie nah an die Augen hält, bricht sich das Licht rosa darin. Ich lege die anderen Ketten und Bänder wieder ab, lege sie zurück in die Kiste, nur das rote lasse ich an meinem Arm. Ich würde es gerne behalten, weiß aber nicht, ob das Diebstahl wäre. Doch Irmi ist tot, also gehört es ihr nicht mehr, es gehört niemandem mehr.
    Ich stelle die vollen Tüten in einer Reihe im Flur ab. Es ist viel Zeug, das Irmi im Laufe ihres Lebens angesammelt hat. Hoffentlich werden die Leute, an die das verteilt wird, es auch zu schätzen wissen. Ich gehe unter die Dusche und lasse so lange warmes Wasser über meinen Körper laufen, bis das Bad völlig von Dampf eingehüllt wird.
    Dann schaue ich bei Max vorbei. Der ist nicht verärgert, wie ich es befürchtet hatte. Martin hat ihm alles schon erklärt.
    »Tut mir leid«, sagt er und schaut betreten.
    »Ja. Mir auch.« Was soll man da auch sagen?
    »Du brauchst nicht mehr kommen, wenn du nicht magst. Martin hat deine Drachen heute mitgenommen, das tut er sicher noch mal.«
    »Nein. Das ist nett, aber ich brauche Ablenkung. So alleine in dem großen Haus möchte ich gar nicht sein.«
    Ich setze mich in dem strahlenden Sonnenschein auf eine Düne. Das Kreischen von aufgeregten Kindern dringt an mein Ohr. Sie stehen vorne am Wasser und springen über die Wellen, die sich dort das letzte Mal brechen, bevor sie zu Schaum werden. Die Kinder sind so glücklich und sie sind so klein. Ich kann mich noch vage daran erinnern, wie das war, als ich selbst noch so klein war. Die Zeit verging so unglaublich langsam. An Heiligabend zum Beispiel. Ich stand viel zu früh auf und schlich in der Wohnung herum, schlich um meine Eltern herum, die dauernd damit beschäftigt waren zu kochen oder heimlich, hinter geschlossenen Türen Geschenke einzupacken. Ich war so aufgeregt, so sehr, dass ich vor lauter Aufregung keine Beschäftigung fand, die mich hätte ablenken können. Stattdessen starrte ich auf den Sekundenzeiger der Uhr in der Küche und konnte mir nicht vorstellen, dass der Tag es jemals schaffen würde beim Abend anzukommen. Meine Eltern hingegen waren fest davon
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