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Fehlt noch ein Baum

Fehlt noch ein Baum

Titel: Fehlt noch ein Baum
Autoren: Irina Tabunowa
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Erwachsenen. Erst wenn es ein halbes Jahr alt ist, sind es zehn Prozent. Ende des vierten Lebensjahres bildet sich die Sehkraft ganz aus. Nach seiner Geburt unterscheidet der Säugling mehr oder weniger gut Kontrastfarben – Rot, Schwarz, Weiß. Die Hersteller von Klappern scheinen das nicht zu wissen (oder tun nur so) und fabrizieren nach wie vor, zur Freude der mit guten Augen ausgestatteten Eltern des halb blinden Säuglings, massenhaft zartrosa oder pastellblaues Spielzeug.
    Könnten die zur Abwechslung nicht mal eine schwarze Klapper herstellen?
    Im Prinzip bin ich mit den Kleinen solidarisch. Eine große Farbpalette kann sehr ermüdend sein.
    Immer sagt man mir: »Ira, du siehst die Welt so trist, eintönig und grau, daher kommt deine Farbimpotenz …« Das ist ein Irrtum. Ich denke ganz im Gegenteil, dass die Welt um mich herum übermäßig und unbegründet bunt ist. Das zwanzigste Jahrhundert mit seinen kolossalen wissenschaftlichen Entwicklungen, darunter auch die Chemie, hat der Welt einen Haufen Färbemittel verschiedener Art beschert. Das, was früher als Privileg galt – Purpur, Azur usw. –, ist heute eine Alltäglichkeit. Aber es ist eine Alltäglichkeit für den Verstand, nicht für das Auge …
    In den Großstädten ist der Mensch einem Bacchanal der Farben ausgesetzt.
    Ich bin sicher, dass die starke Aggressivität in der Gesellschaft und die tiefen Depressionen, die fast jeden Zweiten betreffen, von dieser Zügellosigkeit kommen. Von Kindheit an werden wir mit Tönen und Farben
en masse
vollgestopft. Diese Ausmaße sind erst in derzweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zur Norm geworden, davor war die Menschheit eher »farblos« und »tonlos«. Während es jedoch hinsichtlich der Töne gewisse Einschränkungen gibt (es ist nicht üblich, an öffentlichen Orten laut Musik zu hören, jegliche Geräusche nach zehn Uhr abends gelten als schlechte Manieren usw.), lässt man der Aggression der Farben freien Lauf. Welche Reaktion hat ein Mensch zu erwarten, der nach einem langen Arbeitstag in der Metro seiner Sitznachbarin Vorhaltungen wegen ihrer hellrosa Jacke macht?
    Vielleicht mag ich deswegen Schwarz-Weiß-Bilder so gern. Nein, ich habe nichts gegen Farben. Aber ich bin für eine vernünftige Dosierung. Umso mehr, als schwarz-weiß keine Farblosigkeit darstellt.
    Schwarz hat über achtzig Schattierungen. Und im Weiß sind überhaupt alle Farben des Spektrums vorhanden. Die Jakuten haben dreihundert verschiedene Bezeichnungen für Schnee in seiner reinsten Form ohne zusätzliche Farbeinsprengsel von Blut, Benzin, Urin …
    Ich finde, dass die Überdosierung von Farben und Ornamenten zerstörerisch auf den menschlichen Geist wirkt. Farben in erhöhter (lies: seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts üblicher) Dosierung schwächen und stören die Konzentrationsfähigkeit.
    Vielleicht halte ich deswegen so wenig von Design. Ich staune nur, warum bei dieser Farbeskalation bis jetzt noch keine speziellen Filterkontaktlinsen erfunden wurden, mit denen man etwas zur Ruhe kommen könnte, indem sie nur eine Farbe durchließen – Rot, damit man heil über die Straße kommt. Ich würde solche Linsen als Erste kaufen und sie nur im Kino oderin einer Kunstausstellung herausnehmen. Meine Freude wäre so groß wie die eines Kindes, das an einem Kaleidoskop dreht.
    Â 
    3. März 2004
Cupido
    Â 
    Ich frage mich, warum die Verkörperung des Flirts, der Romantik und einer beginnenden Liebesbeziehung ein pummeliges Kleinkind ist. Und warum der Säugling Amor nicht stattdessen das Symbol für die Mutterschaft ist …
    Wobei er ursprünglich nicht als Säugling dargestellt wurde. Er hatte sogar eine Frau – Psyche … Nur irgendwann in der Renaissance ging man dazu über, ihn engelsgleich als rosiges Kleinkind darzustellen, wenn ich mich nicht irre.
    Soll das bedeuten, dass die Liebesbeziehungen im Verlauf der Jahrhunderte infantil und säuglingshaft geworden sind? Was soll man mit einem kleinen Kind anfangen: es rülpst, gibt auf nichts eine Antwort, weint, will an die Brust …
    So also sieht die
love story
der Menschheit von heute aus.
    Â 
    4. März 2004
Rückwärtsgang
    Â 
    Vera hat nun endlich halbwegs gelernt zu krabbeln. Allerdings nur mit dem Popo voran. Sie entwickelt ihren Rückwärtsgang.
    Â 
    5. März 2004
Die
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