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Fehlt noch ein Baum

Fehlt noch ein Baum

Titel: Fehlt noch ein Baum
Autoren: Irina Tabunowa
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neben dem umgestoßenen Topf sitzen. In jeder Hand hält sie ein Kackwürstchen. Laut schmatzt sie, und ihr Mund ist mit Fäkalien verschmiert.
    Vera ist erst neun Monate alt. Und mir wurde gesagt, sie würde sich erst mit etwa einem Jahr für denInhalt ihres Töpfchens interessieren! Meine Tochter ist genial.
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    15. März 2004
Kreativitätsbremse
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    Ich sitze da und schreibe einen Artikel über Säuglingspflege. Vera verlangt aktiv nach Aufmerksamkeit und will auf den Arm genommen werden. Sie sabbert, macht »uh« und »ah« und quietscht. Sie rasselt mit der Klapper, kaut auf den Schnürsenkeln ihrer Babyschuhe herum und grummelt dabei. Wie soll man in einer derart unkreativen Atmosphäre anderen den richtigen Umgang mit Säuglingen beibringen?
    Für den Kinder-und-Eltern-Journalismus sind lebende Kinder eine Kreativitätsbremse!
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    19. März 2004
Nabelschnur
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    Oft habe ich gelesen, dass Mütter von Söhnen, die im Krieg gefallen sind, den Tod ihrer Kinder gefühlt haben.
    Vielleicht gibt es tatsächlich eine unsichtbare Nabelschnur, die Mutter und Kind verbindet, und die nur durch den Tod getrennt werden kann?
    Allerdings ist es bei dem einen eine starke Verbindung (mit kurzer Nabelschnur) und bei dem anderen eine normale. Und bei einigen Kindern ist diese Nabelschnur mehrmals um den Hals gewickelt …
    Ich hingegen fühle meine Tochter nicht. Und ich höre nicht sofort, wenn sie auf dem Balkon aufwacht und anfängt zu weinen.
    Â 
    20. März 2004
Menschen ändern sich nicht
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    Menschen ändern sich nach ihrem Säuglingsalter nicht mehr.
    Heute (also eigentlich schon gestern) war ein guter Freund zu Besuch. Als er mit Vera spielte, warf er sie zur Zimmerdecke hoch, ohne zu vergessen, sie wieder aufzufangen. Er wirbelte sie über seinem Kopf wie ein Verkäufer ein Huhn. Er beschrieb mit Vera Kreise, Zickzacks und Schleifen. Meine Tochter flog unter der Zimmerdecke entlang wie ein kleines Bombenflugzeug im Sturzflug.
    Veras Begeisterung kannte keine Grenzen. Offenbar war das ihr erstes richtiges Vergnügen in ihrem weiblichen Leben.
    Aber davon wollte ich nicht sprechen. Mein Freund und ich schauten uns Veras Überschwänglichkeit an und kamen zu dem Schluss, dass die Neigung der Menschen zu Achterbahnen und Karussells aus der Kindheit kommt. Erwachsene sind große Kinder – ja, das ist ein Axiom. Und warum ist es so schön, wenn man sich in diesen dummen Vergnügungsparks durchschaukeln und -schütteln lässt? Es löst Erinnerungen an die Kindheit aus, als man völlig hilflos war und noch nicht wusste, dass man auch schmerzhaft fallen gelassen werden kann. Vielleicht kommt daher auch die Begeisterung für Extremsportarten? Obwohl die eher auf Selbstkontrolle ausgerichtet sind und nicht auf die absolute Selbstaufgabe. Das ist schließlich ein Unterschied. Das ist Adrenalinsucht …
    Irgendwo habe ich gelesen, dass es im Gehirn eines Kleinkinds eine Art Vergnügungszentrum gibt, das drogenähnlicheStoffe produziert, wenn man es schüttelt und schaukelt. Etwas noch Besseres als Adrenalin.
    Kann mich nicht mal jemand schaukeln? So wie meine Mutter, als ich klein war?
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    21. März 2004
Geschichte des Fallens
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    Massagen haben eine eindeutig dynamisierende Wirkung auf meine Tochter – sie zappelt ständig herum. Mir ist fast das Herz in die Hose gerutscht, als ich mich vom Computer umdrehte, um nach Vera zu sehen, die auf dem Sofa spielte: Meine Tochter fiel zielstrebig (und schweigend) mit dem Kopf voraus vom Sofa. Ich fing sie kurz vorm Fußboden auf. Das war für mich heute wie eine Feuertaufe.
    Nachdem ich mich von Veras Leibesübungen erholt hatte, dachte ich, Kleinkinder sind dermaßen gut mit Fettpolstern ausgestattet, dass sie sich sowieso nicht so leicht verletzen. Die Tochter meiner Cousine ist mit einem Monat vom Wickeltisch gesegelt. Und es war nichts, nicht mal ein blauer Fleck.
    Und meiner Freundin ist als Kind etwas völlig Verschärftes passiert. Sie war damals drei Monate alt. Ihre Mutter ließ sie frisch gewickelt im Sessel liegen und ging selbst in die Küche. Als sie wiederkam, war das Kind nicht mehr da, weder im Sessel noch auf dem Fußboden. Die Mutter meiner Freundin war schockiert – sie wollte schon die Polizei rufen, um das Kind gestohlen zu melden. Doch vorher sah sie noch unter dem Schrank nach. Dort lag, mit den Augen
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