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Fehlt noch ein Baum

Fehlt noch ein Baum

Titel: Fehlt noch ein Baum
Autoren: Irina Tabunowa
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geschrieben, ich lege ihn hier auf den Tisch. Gute Nacht.«
    Â»Gute Nacht. Und was ist, wenn auch morgen keine Wehen einsetzen?«
    Â»Dann öffnen wir die Fruchtblase, mein Mädchen, was sonst …?«
    Die Nacht war sanft. Es war meine erste Nacht ohne all die Mücken, die mich den ganzen Mai über gequält hatten. Nur eines störte – mit einem Katheter in der Vene zu schlafen ist nicht sonderlich bequem. Aber es war auszuhalten, schließlich konnte ich jederzeit mit meinem Winzling niederkommen.
    Â 
    Der Morgen des 13 . Mai. Ich bin immer noch schwanger. Ein Haufen Ärzte kommt ins Zimmer.
    Â»Was ist, Ira? Haben die Wehen eingesetzt?«
    Â»Nein.«
    Â»Hat etwas wehgetan?«
    Â»Nein.«
    Â»Gut, dann werden wir jetzt die Fruchtblase öffnen.«
    Man stellt mir eine Ente unter und zersticht mit einer dünnen Nadel die Fruchtblase. Ich versuche, etwas zu sehen, aber mein Bauch stört. Ich fühle nur, wie eine heiße Flüssigkeit meine Beine hinunterläuft. Wieder gibt man mir ein Medikament.
    Â»Und jetzt lauf den Flur auf und ab. Halt, du hast vergessen, dir eine Windel zwischen die Beine zu stecken. Hier wischt dir keiner hinterher.«
    Ich laufe den Flur entlang und halte mir die Windel zwischen die Beine, die von dem aus mir sickernden Wasser aufquillt. Es ist eine hellrosa Flüssigkeit. Ich gehe, genauer gesagt, tripple hin und her und warte auf die Wehen. Ein wenig später gesellen sich noch zwei weitere Schwangere mit rosafarbenen Windeln zu mir. Nun sind wir schlecht gelaunt zu dritt unterwegs. Eine von ihnen seufzt und fragt mich:
    Â»Haben sie dir schon was Wehenförderndes gegeben?«
    Â»Nein, sie haben nur die Fruchtblase aufgestochen.«
    Â»Und hast du Wehen?«
    Â»Nein.«
    Â»Dann wirst du was Wehenförderndes bekommen.«
    Â»Bist du sicher?«
    Â»Was denn sonst, wenn du keine Wehen hast, aber die Fruchtblase geöffnet wurde? Meinst du, die lassen dich nach Hause? Ach, wenn es doch schon so weit wäre. Ich bin schon längst überfällig. Aber Kohl haben sie mir noch nicht verschrieben.«
    Kohl ist eine einzigartige Methode, um den Gebärmutterhals zu weiten. Kein Kohlkopf natürlich, sondern »Meereskohl«, also Seetang. Man stopft einer Schwangeren Seetang in den Gebärmutterhals und wartet. Durch die Flüssigkeit quillt der Tang auf und weitet behutsam den Gebärmutterhals. Die andere Märtyrerin schaltet sich in das Gespräch ein:
    Â»Bei mir hat der Kohl nicht geholfen, ich wurde zu meinem Mann geschickt, zum Kontakt.«
    Â»Was für einen Kontakt?«
    Â»Den direkten. Die Ärztin sagte: ›Sie müssen mitIhrem Mann direkten Kontakt haben.‹ Und am Samstag und Sonntag haben wir uns dann kontaktiert.«
    Â»Hat es denn wenigstens geholfen?«
    Â»Ja, das Fruchtwasser ist von selbst abgegangen.«
    Â»Los, Mädchen, hopp, hopp zur Herztonmessung!«
    An jedem Bett steht ein Kasten, mit dessen Hilfe die Herztöne des Kindes hörbar werden. Wir legen uns auf die Betten, unsere Bäuche werden verdrahtet, und wir hören das Schlagen der kleinen Herzen. Plötzlich zuckt die gesamte Ärztebrigade zusammen – der Chef ist im Anmarsch. Rasch geht er alle Betten ab und bleibt an meinem stehen.
    Â»So, so. Wessen Bett ist das? Wieso bin ich nicht informiert?«
    Â»Die kam gestern ohne Anmeldung.«
    Â»Aha. Wurde die Fruchtblase schon durchstochen?«
    Â»Ja, vor einer Stunde.«
    Â»Lasst mich mal nachsehen.«
    Dem Chef wird ein Gummihandschuh abgespült. Die Sache ist die, dass sie in der Entbindungsstation sparsam mit den medizinischen Handschuhen umgehen und sie so lange benutzen, bis sie sich auflösen. Der Vorgang vollzieht sich folgendermaßen: Der Arzt, der die Schwangere untersucht, wäscht den Handschuh und gibt ihn dann an den nächsten Arzt zur Untersuchung derselben Schwangeren weiter. Wenn gerade keine Untersuchung stattfindet, liegt der persönliche Handschuh bei jeder Frau am Kopfende.
    Nachdem er mich untersucht hat, zieht der Chef die Augenbrauen zusammen und bittet um Instrumente. Mir wird erneut die Fruchtblase durchbohrt.
    Â»Was ist, Ira, haben die Wehen immer noch nicht eingesetzt?«
    Â»Nein.«
    Â»Dann geben wir dir jetzt ein wehenförderndes Mittel.«
    Jetzt sehe ich aus wie ein plattgemachtes Hähnchen. Von der rechten Seite meines Bauchs spannen sich Drähte zum Herztonmessgerät und
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