Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fehlt noch ein Baum

Fehlt noch ein Baum

Titel: Fehlt noch ein Baum
Autoren: Irina Tabunowa
Vom Netzwerk:
Gedanken.«
    Â»Ich frage dich nach einem sehr konkreten Fall. Und nicht nach den Arbeitsmethoden des Psychologen. Was hättest du denn an Innas Stelle getan?«
    Â»Als Mensch oder als Psychologin?«
    Â»Erst mal einfach nur als Mensch.«
    Â»Ich hätte ihr wie Inna einen Tritt in den Hintern verpasst. Und ich weiß, wovon ich spreche, denn ich bin, wie du weißt, eine Hundebesitzerin.«
    Â»Was hat das denn damit zu tun?«
    Â»Weißt du, wie sich die Hundebesitzer auf den Hundeplätzen prügeln? Da geht es um Leben und Tod, und ihre Hunde stehen daneben und schauen zu.«
    Â»Ja, und als Psychologin?«
    Â»Als Psychologin würde ich Folgendes tun. Als Erstes würde ich das Kind untersuchen, ob nach dem Sturz alles in Ordnung ist. Zweitens würde ich mich umschauen, ob diese Mutti nicht von einem Mann oder einem Hund eskortiert wird.«
    Â»Und als Drittes?«
    Â»Würde ich das Kind in sichere Entfernung bringen und der Mutti dann gezielt eins in die Fresse geben.«
    Â 
    Als ich das nächste Mal in die Wohnung von Veras Vater kam, war es eine Flucht vor Innas quiekenden und launenhaften Kindern. Sollte so etwas etwa auch bald auf mich zukommen? Nein, mein Kind würde anders sein …
    Wohin konnte er das Geld gelegt haben? Mist, erhatte seine Hälfte wohl schon für seine Mädchen und Freunde ausgegeben. Teure Flaschen standen herum: Gin, Whisky, edle Liköre. Konnte er nicht Wodka trinken? Ganz sicher wollte er irgendwelche Frauen rumkriegen. Ich musste das Geld schnell finden und mitnehmen.
    Wo hatte er es bloß versteckt? In den Sachen war es nicht, unterm Bett war es nicht …
    Kein Geld im Kühlschrank und auch nicht auf dem Balkon.
    Das Kind in meinem Bauch rebellierte gegen die fieberhafte Suche und bekam Schluckauf. (In letzter Zeit hatte es mich mit seinem Schluckauf nicht mehr ruhig schlafen lassen.) Ich musste eine Pause einlegen. Mein Herz klopfte mir so laut in den Ohren, dass ich fürchtete, ich könnte das Geräusch der Schlüssel im Türschloss überhören.
    Man sagt, für ein Neugeborenes sei das Schlagen des Herzens der Mutter das beruhigendste Geräusch. Genau deswegen solle man sich kleine Kinder öfter an die Brust legen.
    Wir hören unser Herz nicht, sie aber kennen das Geräusch und haben sich während der neun Monate im Bauch daran gewöhnt …
    Aber ein Mensch besteht nicht nur aus einem Herzen. Überhaupt liegt das Kind näher am Darm und am Magen. Vielleicht ist das Geräusch der zu verdauenden Nahrung und der Peristaltik des Darms dem kleinen Menschen viel vertrauter? Vielleicht sollte man die Säuglinge zur Beruhigung nicht ans Herz drücken, sondern an den Bauch? Damit sie das vertraute Magenknurren hören …
    Wahrscheinlich gibt es im Bauch eine ganz wunderlicheKlangwelt. Das Herz rattert wie ein Vorortzug, Magen und Darm arbeiten wie Fabriken. Die Harnblase füllt sich und entleert sich wie ein System von Rohrleitungen. Das Blut wird durch die Venen gepumpt, schschsch … wie die Meeresbrandung.
    Auf einmal wollte ich nicht mehr das unglückselige Geld in dieser vermüllten Wohnung suchen, sondern ans Meer fahren. Mir kamen fast die Tränen. Zum Ende meiner Schwangerschaft war ich einfach hypersentimental. Jeder Schwachsinn konnte mich zu Tränen rühren.
    Nachdem ich fünf Minuten geheult hatte, wischte ich die Tränen ab und schnäuzte mich, Veras Vater direkt ins zerwühlte Bett. Das Kind kitzelte mich mit seinem Fuß. Ich streichelte es. Auf der Höhe der Rippen hatte sich ein Hügel gewölbt. Was das wohl sein mochte? Der Kopf konnte es nicht sein, der Ultraschall hatte die Lage des Kindes gezeigt, es lag, wie es sollte, mit dem Kopf nach unten. In diesem Zusammenhang fiel mir auf, dass eine schwangere Frau wie die Dame in einem Kartenspiel ist: Wie man sie auch dreht – immer zeigt ein Kopf nach oben …
    Zum Suchen hatte ich überhaupt keine Kraft mehr. Meine Beine waren bleischwer, ich war sehr müde. Nachdem ich das Zimmer nach kompromittierenden Spuren abgesucht hatte, ging ich, ohne das Geld gefunden zu haben.
    Â 
    Es war bereits April. Alles blühte und leuchtete. Mir war eher nach Winter, nach schwarz und weiß …
    Die Fähigkeit, zu sehen, wird beim Säugling als Letztes ausgebildet. Was gibt es im Bauch auch schon zu entdecken?
    Nach seiner Geburt hat das Kind vier Prozent der Sehkraft eines
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher