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E.M. Remarque

E.M. Remarque

Titel: E.M. Remarque
Autoren: Schatten im Paradies
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Prolog
    D as En­de des
letz­ten Krie­ges er­leb­te ich in New York. Die Ge­gend um die 57. Stra­ße war mir, dem
Hei­mat­lo­sen, der die Spra­che die­ses Lan­des nur sehr man­gel­haft be­herrsch­te,
fast zu ei­ner neu­en Hei­mat ge­wor­den.
    Hin­ter mir lag ein lan­ger, ge­fähr­li­cher
Weg, die Via do­lo­ro­sa all de­rer, die vor dem Hit­ler-Re­gime hat­ten flie­hen
müs­sen. Die Stra­ße der Lei­den lief von Hol­land, Bel­gi­en und Nord­frank­reich nach
Pa­ris. Dort teil­te sie sich. Der ei­ne Weg führ­te über Ly­on an die Küs­te des
Mit­tel­mee­res, der an­de­re über Bor­deaux und die Py­re­nä­en nach Spa­ni­en, Por­tu­gal
und zum Ha­fen von Lissa­bon.
    Ich war die­se Stra­ße ent­lang­ge­zo­gen wie so
vie­le, die der Ge­sta­po ent­kom­men wa­ren. Doch auch in den Län­dern, durch die
un­se­re Flucht­we­ge führ­ten, wa­ren wir noch nicht in Si­cher­heit, denn nur die
we­nigs­ten von uns hat­ten gül­ti­ge Aus­wei­se oder Vi­sa. Wenn die Gen­darmen uns
er­wi­sch­ten, wur­den wir ein­ge­sperrt, zu Ge­fäng­nis ver­ur­teilt und aus­ge­wie­sen.
Ei­ni­ge der Län­der wa­ren al­ler­dings mensch­lich ge­nug, uns we­nigs­tens nicht über
die deut­sche Gren­ze ab­zu­schie­ben; dort wä­ren wir in den Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern
um­ge­kom­men.
    Da nur we­ni­ge Flücht­lin­ge gül­ti­ge Päs­se
hat­ten mit­neh­men kön­nen, wa­ren wir des­halb fast pau­sen­los auf der Flucht. Wir
konn­ten oh­ne Pa­pie­re auch nir­gend­wo le­gal ar­bei­ten. Die meis­ten von uns wa­ren
hung­rig, elend und ein­sam; des­halb nann­ten wir die Stra­ße un­se­rer Wan­de­run­gen
auch die Via do­lo­ro­sa.
    Un­se­re Sta­tio­nen wa­ren die Po­stäm­ter in den
klei­nen Städ­ten und die wei­ßen Mau­ern an den Stra­ßen. Auf den Po­stäm­tern
ver­such­ten wir post­la­gern­de Nach­rich­ten von An­ge­hö­ri­gen und Freun­den zu fin­den;
die Mau­ern und Häu­ser an den Chaus­seen wur­den un­se­re Zei­tun­gen. In Krei­de und
Koh­le fand man dort die Auf­zeich­nun­gen der Ver­lo­re­nen, die sich ge­gen­sei­tig
such­ten, Adres­sen, War­nun­gen, Hin­wei­se, Schreie ins Lee­re, in ei­ner Pe­ri­ode
all­ge­mei­ner Gleich­gül­tig­keit, der bald die Epo­che der Un­mensch­lich­keit fol­gen
soll­te: der Krieg, in dem Ge­sta­po und Mi­liz und oft auch die Gen­darmen
ge­mein­sa­me Sa­che mach­ten in ih­rer Jagd auf uns Un­glück­li­che.

I.
    I ch war vor ei­ni­gen Mo­na­ten mit ei­nem
Fracht­damp­fer aus Lissa­bon in Ame­ri­ka an­ge­kom­men und konn­te nur we­nig
Eng­lisch – das war, als hät­te man mich halb stumm und halb taub und von
ei­nem an­de­ren Pla­ne­ten hier aus­ge­setzt. Es war auch ein an­de­rer Pla­net, denn in
Eu­ro­pa war Krieg.
    Da­zu kam, daß mei­ne Pa­pie­re nicht in
Ord­nung wa­ren. Ich hat­te zwar dank vie­ler Wun­der ein gül­ti­ges ame­ri­ka­ni­sches
Vi­sum, mit dem ich ein­ge­reist war; aber mein Paß lau­te­te auf einen an­de­ren als
mei­nen Na­men. Die Im­mi­gra­ti­ons­be­hör­den wa­ren miß­trau­isch ge­wor­den und hat­ten
mich in El­lis Is­land fest­ge­setzt. Nach sechs Wo­chen hat­ten sie mir dann ei­ne
Auf­ent­halts­ge­neh­mi­gung für drei Mo­na­te ge­ge­ben. In die­ser Zeit soll­te ich mir
ei­ne Ein­rei­se­ge­neh­mi­gung in ein an­de­res Land be­sor­gen. Ich kann­te das von
Eu­ro­pa her. Ich hat­te dort seit Jah­ren so exis­tiert – nicht von ei­nem
Mo­nat, son­dern von ei­nem Tag zum an­dern. Als deut­scher Emi­grant war ich oh­ne­hin
seit 1933 of­fi­zi­ell tot. Jetzt für drei Mo­na­te nicht mehr flie­hen zu müs­sen,
war be­reits ein un­faß­ba­rer Traum.
    Es schi­en mir auch schon lan­ge nicht mehr
merk­wür­dig, einen an­de­ren Na­men zu ha­ben und mit dem Paß ei­nes To­ten zu
le­ben – im Ge­gen­teil, eher pas­send. Ich hat­te den Paß in Frank­furt ge­erbt;
der Mann, der ihn mir an ge­nau dem Ta­ge schenk­te, an dem er starb, nann­te sich
Ross. Ich hieß al­so eben­falls Ro­bert Ross. Mei­nen wirk­li­chen Na­men hat­te ich
fast ver­ges­sen. Man kann viel ver­ges­sen, wenn es ums nack­te Le­ben geht.
    In El­lis Is­land hat­te ich einen Tür­ken
ge­trof­fen, der vor zehn Jah­ren schon ein­mal in Ame­ri­ka
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